Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
lassen kann, wie es bei mir der Fall gewesen ist. Doch ich bin sicher, dass sie die einfühlsame und geduldige Seite, die du zweifellos von deinem Vater übernommen haben wirst, bei allen großen und kleinen Ärgernissen schnell milde stimmt.
Wenn du diese Zeilen liest, kann das nur bedeuten, dass wir uns nach unserem Abschied nicht wiedergesehen haben, und die Vorstellung, dich nicht aufwachsen zu sehen, nie mitzuerleben, welchen Weg du beschreitest oder wie du dich zum ersten Mal verliebst, bricht mir das Herz. Viele schmerzliche Erfahrungen habe ich schon in meinem Leben sammeln müssen, und jedes Mal, wenn ich denke, dass nichts Schlimmeres folgen kann, werde ich eines Besseren belehrt.
Es gibt so viele Dinge, die ich dir noch sagen möchte. Und auch wenn ich sicher bin, dass Anne dich immer daran erinnern wird, will ich, dass du von mir erfährst, wie sehr dein Vater und ich dich lieben. Du hast unser Leben auf eine ganz besondere Art und Weise verändert, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Einzig die Erinnerung an dein Lachen gibt mir die Kraft, nicht vollkommen hoffnungslos in die Zukunft zu blicken. Was in meiner Macht steht, werde ich unternehmen, um diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und wenngleich die Prophezeiung auch vorsieht, dass ich es für unser Volk tun soll, so tue ich es in erster Linie für dich. Du sollst ein unbeschwertes und vor allem freies Leben führen. Du sollst die Wahl haben, den Weg zu gehen, den du zu gehen gedenkst.
Ich weiß, dass die gute Anne alles daran setzen wird, dich glücklich zu machen, und sie wird nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Doch für dich wünsche ich mir mehr als ein Leben auf der Flucht, denn du hast das Beste verdient, das es auf Erden gibt.
Ich schreibe dieses Tagebuch, weil ich möchte, dass du mich kennenlernst, und ich will, dass du von mir erfährst, wie dein Vater und ich unsere letzten Wochen verbracht haben. Denn du bist ein Teil von uns und hast das Recht, die Wahrheit zu erfahren.
In Liebe deine Mutter
Es waren die ersten Zeilen, die Arrow in das unscheinbare Büchlein schrieb, das Sally ihr einst überlassen hatte. Und als sie es zuklappte, fühlte sie, dass es ihr über die kommende Zeit helfen würde. Noch hatte sie keinen Plan, wie ihr Sohn es nach ihrem Ableben erhalten würde, doch darum sorgte sie sich im Moment nicht. Ihr Gefühl sagte ihr, dass es seinen Weg zu Tyron finden würde.
Mit einem freien Kopf legte sie sich neben Keylam ins Bett und schlief auch endlich ein.
Der Einzug
Jedem, der den Einzug der Nyriden in Nebulae Hall begleitete, verursachte er eine Gänsehaut. Die abgesperrten Gänge gewährten den Geistern keinen Zutritt zur Schlossanlage von Abaläss. Über das Eislabyrinth, in dem nur noch die gefrosteten Flammen der freigegebenen Tunnel flackerten, passierten sie den Weg bis hin zum Zwergenreich, und über die Zwergenstadt gelangten sie schließlich an ihr Ziel. Diejenigen, die dem Spektakel fernbleiben wollten, warteten ängstlich in den dunklen Gängen hinter den Absperrungen.
Niemand sagte ein Wort, nicht einmal Frau Gaude oder die Perchten gaben einen Laut von sich. Sie schwenkten ihre Arme in die Richtung, die die Geister nehmen sollten und trieben sie lautlos voran.
Die Blicke der körperlosen Wesen jagten Arrow Angst ein. Zwar wirkten sie entschlossen, jedoch auf eine unberechenbare Art und Weise. Niemand vermochte zu sagen, welche Absichten die nebelartigen Gestalten, deren Erscheinung lediglich aus Gesichtern bestand, verfolgten. Und sie trieben umher, als hätten sie noch keine Notiz davon genommen, dass die unaufhörlich scheinende Reise seit ihrer Verbannung schon bald ein Ende nehmen würde. Eine halbe Ewigkeit hatten sie im Holunderwald unablässig im Kreis reisen müssen, ein endloser Weg, der so manch einen sicher irgendwann in den Wahnsinn getrieben hatte. Zur Wilden Jagd hatten sie diesen Kreis verlassen dürfen, um mit den Perchten nach jenen zu suchen, die verdammt waren. Und nun sollte dieses Dasein ein Ende haben. Wie ein flüchtiger Windzug streiften sie die Gänge entlang und am Ende schloss Frau Perchta den Geisterzug.
In Nebulae Hall angekommen, strömten sie in alle Richtungen davon. Das schwache Licht des Moorschattengewächses ließ den Ort unheilvoll erscheinen. War es zuvor nur ein Gefühl gewesen,,wurde es in diesem Moment zur furchteinflößenden Gewissheit, dass in jedem Winkel etwas lauerte, von dem man nicht wissen konnte, wie es einem gesonnen
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