Sommerstueck
das konnte sie ihm nie sagen, aber wenn sie in den Brennesseln stand und rupfte, dann konnte sie es wenigstens denken, und es war, bei allem irren Schmerz in den Händen, doch eine unsägliche Linderung: Von mir mir mir, und nicht von diesem dämlichen Kuckuck oder von dieser Landschaft hier, die du dir mit verklärter Miene besiehst, nicht von diesem alten Fachwerkhaus, einer Bruchbude, genau besehen, in das sie nun Jahre ihres Lebens würde stecken müssen, nicht von diesen Freundesrunden, in denen sie zusammenhockten und die Lieder ihrer Generation sangen, die Irene nicht hören wollte, wie sie auch die Geschichten nicht hören wollte, von Hoffnungen und Enttäuschungen, an denen sie nicht teilgehabt hatte und die sie kindisch und unverständlich fand, besonders wenn sich die Gesichter der Älteren bei den gleichen Stichwörtern auf die gleiche Weise veränderten. Sie sagte nicht: verschont mich!, sie sagte ihnen nicht ins Gesicht, daß ihr Rückzug ins Landleben eine neue Illusion war, sie hatte begriffen, es gab Dinge, an die sie nicht rühren durfte, sonst verschloß Clemens sich vor ihr. Also vergriff sie sich an sich selber, holte die Nagelschere, schnippelte in ihrem Haar herum, verdarb ihm das Bild von sich, das sie ihm schuldig war, schuldig blieb. Wie sie ihm die Ruhe schuldig blieb, das einzige, was er sich von ihr wünschte, ihn dafür mit Fragen quälte, ja: quälte, und wie sollte sie es ihm und sich selbst erklären, daß es kein anderes Mittel auf dieser Welt gab, sich selbst die Tortur zu mildern, als eben dies: Clemens in ihre Qual hineinzuziehen; erst abzulassen mit ihren tiefer und tiefer,in abgelegenste Bereiche bohrenden Fragen, wenn er den Kopf zwischen die Hände preßte und sagte, er werde noch verrückt. Und jetzt konnte Irene sich zugeben, ohne Schuldgefühl, ohne Reue, daß sie ihn verrückt, daß sie ihn fertig machen mußte, wenn es ihr nicht gelang, ihn dazu zu bringen, daß er sie liebte. Daß er nur sie liebte. Und weil sie ernstlich fürchten mußte, darüber werde auch sie verrückt werden, so wie die Mutter es ihr in ihrer Kindheit oft angedroht hatte, und das Wissen darum, daß eine einsame Mutter mit dem Mädchen, das ein Junge hatte werden sollen, nicht zurechtkam, half ihr gar nichts gegen die Botschaft anderer Zellen, die tief, unangreifbar in ihrem Körper versteckt saßen: daß dieses Kind im tiefsten Unrecht war, das es überhaupt geben konnte, im Unrecht, auf der Welt zu sein. Wer sollte sie glauben lehren, daß es echte Teilnahme war, wenn Clemens sich nun über sie beugte, sie fragte, warum sie weinte. – Ich? mußte sie zurückfragen. Aber ich wein doch nicht. – Weinte sie denn?
8.
Zum Haus von Antonis und Luisa führten drei Wege. Vermutlich führen sie heute noch dorthin, aber wir gehen sie nicht mehr, und so ist es gut möglich, daß die Wege, da sie nicht mehr begangen werden, verschwunden sind. Die weiteste Verbindung waren die regulären Straßen, schotterbestückt im günstigsten Fall, zumeist aber Sandwege, zerfahren, grundlos bei Regen. Am kürzesten war der Pfad von Bremers Haus über die Wiese, am Moorwald vorbei, hart am Rand des Schwingrasens,den Tante Wilma, wie sie erzählte, an ihrem Hochzeitstag übermütig betreten hatte und in den sie fast versunken wäre, auf Nimmerwiedersehen, hätte nicht ihr frischgebackener Bräutigam sie gerettet. Aber die Brautschuhe blieben im Moor stecken, und lange haben alle sich gefragt, was das wohl zu bedeuten hätte. Ja, der Moorwald ist tückisch.
Jan und Ellen gingen mit Jenny den dritten Weg, am letzten Haus des »Katers« vorbei, über die hügeligen Wiesen zum Neandertaler hoch, von dem aus sie sich den Rundblick über das Land nie versagen konnten, zu jeder Jahreszeit, bei jedem Licht, bei jedem Wetter, ein immer wechselndes Bild, dessen sie niemals überdrüssig werden konnten: das Dorf, das sich mit drei Armen in die Landschaft streckte. Der Weiher. Dahinter die weiße Kuppel und die schwarzen Flügel der Windmühle, gen Süden die großen fensterblitzenden Ställe des Hauptdorfs und linker Hand der Wald, der den Horizont begrenzte. Im Fernglas sahen sie über dem Vogelsee den Bussard kreisen und am Waldrand die drei Rehe stehen, die um diese Zeit immer dort standen. Es scheint, sagte Ellen, als seien wir die erste Generation, die eine Art von schlechtem Gewissen empfindet angesichts der Schönheit der Natur. Jan sagte, er lasse sich seine Freuden durch schlechtes Gewissen nicht trüben. Übrigens seien
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