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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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muschelweißes Papier, finde weder Blatt noch
Stift, finde weder Polaroidkamera noch Briefumschläge. Auch im ersten Stock
finde ich nichts. Ich rücke die Bücher ein Stück von der Wand, nehme eines in
die Hand, ein kleiner, weißer Aufkleber weist es als Buch der Université de
Provence aus, es ist ein neues Buch, die Seiten nicht vergilbt oder verknickt,
Walter Benjamin steht auf der ersten Seite. Auch das zweite Buch ist von der
Université, Theodor Adorno, ich klappe die Bücher wieder zu und stelle sie
zurück. Mein Blick bleibt an der kleinen Schneekugel hängen, in der ein
Schneemann steht. Ich kenne die Kugel, mein Vater hat sie mir vom
Weihnachtsmarkt mitgebracht, als ich noch klein und nicht einmal im
Kindergarten war. Lange Zeit stand sie auf meinem Nachttisch neben dem Bett.
Vor dem Einschlafen schüttelte ich sie immer wieder und ließ Schneestürme
entstehen. Irgendwann verschwand die Kugel, so wie viele Dinge verschwanden,
die ich früher besaß, Dinge aus unserem Haus, von denen meine Mutter
behauptete, sie seien kaputtgegangen oder gestohlen worden.
    Ich zucke zusammen, als Julie mich berührt. Ihre Hand hinterlässt
einen weißen Abdruck auf meiner Schulter, mein Rücken ist schon am zweiten Tag
verbrannt, wie damals. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Haut Blasen
wirft. »Verbranntes Vogelmädchen«, Julie lacht. Am liebsten würde ich ihr eine
Ohrfeige geben. Aber Julie kann Gedanken lesen. Aus dem röchelnden Kühlschrank
holt sie Eiswürfel und wickelt sie in ein Geschirrhandtuch, legt sie an meine
Schulter. Rinnsale laufen mir den Rücken entlang in meinen Rock. Julie wischt
das Wasser mit den Händen weg.
    MANCHMAL BIN ICH NACH der
Schule bei Lena oder anderen Freundinnen zu Besuch. Abends kommen die Väter nach
Hause. Sie rufen ein lautes Hallo durch den Flur und geben Frau und Tochter zur
Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Sie ziehen das Jackett aus, reden von ihrem
Tag und fragen, wie es bei uns gewesen sei, ob die Lehrer Klassenarbeiten
zurückgegeben, ob wir Pläne für das Wochenende haben. Dann setzen sie sich an
den Küchentisch, trinken ein Glas Bier und überlegen, ob wir nicht samstags
etwas zusammen unternehmen wollen, in einen Freizeitpark gehen, in den Zoo, ins
Kino.
    Wenn ich nach Hause komme, steht meine Mutter im Bad vor dem Spiegel
und murmelt »es wird besser werden, es wird ihm besser gehen, die Tabletten
werden helfen.« Sie hört nicht mehr damit auf, sie weiß nicht, dass ich sie
durch den Spalt der Tür hindurch höre.
    Am Wochenende klingelt das Telefon, ich melde mich mit
unserem Namen. Am anderen Ende der Leitung antwortet niemand und ich höre nur
ein leises Atmen. Ich lege auf und sage, es habe sich wohl jemand verwählt.
Mein Vater will den Raum verlassen und meine Mutter ruft ihm hinterher, er solle
dableiben. Sie schickt mich raus und sagt so laut, dass ich es auch im Flur
noch hören kann, sie wolle einen neuen Telefonanschluss, sie wolle eine neue
Nummer, sie ertrage diese ständigen Anrufe nicht.
    In der großen Pause sitze ich mit Lena und den anderen
Mädchen auf der Wiese neben den Balancierbalken. Wir haben Gänseblümchen
gepflückt, die jetzt vor uns liegen. Nach und nach werden es immer weniger,
denn die anderen Mädchen können aus den Blumen Kränze flechten, die sie sich
ins Haar binden. Ich versuche, mit dem Fingernagel Löcher in die Stängel zu
drücken, durch die ein anderer hindurch geschoben werden kann, aber sie gehen
mir immer kaputt. Ich erzähle den Mädchen, dass wir die Kränze vergraben
sollten, denn wenn man sie vergrabe, wüchsen daraus Gänseblümchenkranzpflanzen.
Die anderen Mädchen schauen mich ungläubig an.
    JULIE SITZT BARFUSS IM GARTEN ,
auf dem Schoß eine weiße Schürze. Hinter ihr laufen Eidechsen die Hauswand
hinab, kleine, schnelle Körper, die kurz innehalten, den Kopf drehen, weiterlaufen.
Mit schnellen Griffen bewegt Julie die Messerklinge in die Fische in ihrer Hand
und schlitzt sie auf, silberne Schuppen rieseln wie Konfetti ins Gras. Mit der
rechten Hand holt sie die Innereien raus und wirft sie in einen Plastikeimer,
dann schneidet sie die Flossen ab und lässt den Fisch vor sich in die
Babybadewanne fallen. Ihre Unterarme sind rot, ihre Knie sind rot, das Blut
fließt über ihre Füße. Sie summt.
    Ihre Bewegungen sind rhythmisch, irgendwann rufe ich

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