Sommertochter
dazwischen.
Woher sie den Schlüssel für das Haus habe, wenn sie doch eingestiegen sei. Ein
Zittern geht von den Waden über die Oberschenkel zum Brustkorb und den
Oberarmen über, erfasst meine Stimme. Etwas an Julie lässt mich nicht daran
glauben, dass sie die Wahrheit sagt. Der Schlüssel sei hinter der Tür gelegen,
sie habe sich nur bücken und ihn an ihren Schlüsselbund klemmen müssen, sagt
sie, das Messer in der Unterseite des Fisches. Innereien links, Fisch rechts.
»Ich habe den Nachbarn kennengelernt«, sage ich. Julie bearbeitet weiter
die Fische und ich frage mich, wer das alles essen soll. »Er sagt, du wärst
schon länger hier, er sagt, du warst auch die letzten Jahre im Haus«, ich
versuche es mit einem sachlichen Ton. Julie sagt erst nichts, dann sagt sie,
sie habe nie etwas anderes behauptet. Sie macht noch einmal eine Pause und dann
fragt sie, was ich von Jan halte. Sie nimmt den Blick von dem Fisch in ihrer
Hand und schaut mich an.
IN EINER KLEINEN KEKSDOSE sammle ich Taschengeld. Immer wenn meine Eltern mir eine Mark zustecken oder
ein paar Pfennige vom Einkaufen übrigbleiben, werfe ich das Geld in die Dose.
Ich versuche es immer und immer wieder am Sonntag, wenn mein Vater
nicht im Büro und die Buchhandlung meiner Mutter geschlossen ist. Ich nehme ein
paar Mark aus der Keksdose und stecke sie in die Hosentasche. Im Flur ziehe ich
meine Schuhe und den gelben Friesennerz an, binde mir die Schnürsenkel, nehme
den Schlüssel von der Kommode und schlieÃe die Tür. Im Garten liegt frischer
Tau auf dem Herbstlaub, mit dem Fahrrad fahre ich über den Schotterweg auf die
StraÃe.
»Brötchen für sechs Mark«, sage ich zur Verkäuferin. In der Bäckerei
ist es warm, es riecht nach frischem Brot und Gebäck. Ich lege die Münzen auf
den Tresen. Die Brötchentüten sind zu groà für meine Hände, ich trage sie links
und rechts im Arm wie zwei Babys, die ich wiege. DrauÃen stecke ich die Tüten
in das Netz aus den bunten, groÃen gehäkelten Maschen, lege sie in den
Fahrradkorb.
Die Tüten sind nass geworden, schnell packe ich sie zu Hause aus und
lege auch die Brezel dazu, die mir die Bäckerin geschenkt hat. Ich nehme drei
Teller, stelle Marmelade und Honig auf den Tisch, ich lege die Kassette von Simon
& Garfunkel ein, stelle die Kaffeemaschine an. Irgendwann kommt meine
Mutter in die Küche. Wir frühstücken zu zweit.
» HALLO VOGELMÃDCHEN «, sagt
Jan und tritt unter den Apfelbaum, in seinen Händen die Kamera, er blickt durch
den Sucher, aber drückt nicht ab. Warum ich gestern so schnell gegangen sei,
fragt er. Und er sagt, dass er uns beobachtet habe, Julie mit dem Fisch und
mich mit zusammengekniffenen Augen, als blende mich etwas. Ich kann gar nicht
antworten, so schnell sprudeln die Worte aus ihm heraus. Er nehme mich mit,
sagt er weiter, er habe gesehen, dass Julie gerade den Garten verlassen habe, und
bevor wir uns gegenseitig die Augen auskratzen, wolle er mir etwas zeigen.
Aus einem Jutebeutel hole ich den Umschlag, falte den Brief auf und
frage Jan, ob er diese Schrift erkenne und es jemanden im Dorf mit einer
Polaroidkamera gebe, ob er selbst vielleicht dieses Foto gemacht habe. Jan
liest den Brief und schüttelt den Kopf, als täte es ihm leid. Er deutet mit den
Händen an, dass ich ihm folgen soll. »Schau mal«, sagt er und geht ein paar
Schritte zum Strommast, zeigt stumm auf den Boden, wie ein Kind. Das
Rotkehlchen streckt die Beine von sich, die orangefarbene Brust leuchtet im
Gras. »Es ist so schön und muss trotzdem sterben«, sagt Jan, legt dabei das
Kinn fast auf seine Brust. Ich denke an meine Ankunft und den Vogel in der Bar
du Matin, denke an Julie, die mich »Vogelmädchen« nennt und schaue zu Jan, der
das auch macht. Ich gehe in die Hocke und tippe mit dem Finger an die starren
Beine. Ich will den Vogel ausstopfen und zu den anderen in Jans Flur an die
Wand hängen. Ich knie mich hin und schaufle mit den Händen ein Grab. Jan
fotografiert mich, wie ich das Rotkehlchen mit dem Fuà in die Kuhle schiebe, es
beerdige.
»Wie viele Stufen sind es noch?«, frage ich. Jan geht vor
mir den Leuchtturm hinauf und dreht sich immer wieder um. Es blitzt, er macht
Fotos von mir auf der Treppe, von mir am Geländer, er hält alles fest. Selbst
als ich ihn bitte aufzuhören, als ich sage »lass das« und mein Ton
unfreundlicher
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