Sommertochter
wird, hört er nicht auf, schieÃt ein Bild nach dem anderen.
Er stöÃt die Tür zur Aussichtsplattform auf und fotografiert die
Ebbe in der Dämmerung, eine Kraterlandschaft auf der die Boote schlafen. Er
breitet seinen Arm aus, mit dem anderen streckt er die Kamera weit von sich.
Jan will ein Erinnerungsfoto, aber ich drehe mich weg. »Was willst du hier?«
»Ich habe mir immer vorgestellt, es gebe ein Video oder
nur ein Foto«, sage ich, »irgendetwas von der letzten Tat meines Vaters, etwas,
wie die Aufnahme der explodierenden Challenger-Raumfähre oder des einstürzenden
World Trade Centers. Ich würde es immer wieder anschauen, bis ich nicht mehr
versuchen würde, es zu verstehen.« »Warum?«, fragt Jan, er lehnt mit dem Rücken
am Geländer. »Vielleicht, weil ich hoffe, dass ich mich so besser erinnern
könnte«, sage ich und atme die kalte Luft ein, die nach Regen riecht und meine
Lungen durchpustet. »Man erinnert sich nicht über Fotos oder Filmaufnahmen«,
sagt Jan.
AN EINEM ABEND IM Winter,
als der Schnee in dicken Flocken fällt und im Garten liegen bleibt, die Erde,
den kahlen Kirschbaum und den Schuppen bedeckt, stelle ich fest, dass die Katze
lahmt. Sie humpelt durch den Flur und bleibt im Wohnzimmer zwischen den Agaven
sitzen.
Es ist nach sechs Uhr und ich warte auf meinen Vater, der jetzt von
der Arbeit nach Hause kommen müsste, aber er kommt nicht. Ich rufe meine Mutter
in der Buchhandlung an und frage, ob er bei ihr ist. Sie sagt, ich solle auf
jeden Fall zu Hause bleiben, mich neben das Telefon setzen und die Namen derer
notieren, die anrufen. Ich sitze auf dem Stuhl und denke daran, dass mein Vater
den Winter mag, dass er es mag, wenn der schneebedeckte Boden nachts den Garten
leuchten lässt, wenn man tagsüber auf den Feldern steht und nicht sehen kann,
wo der Horizont beginnt, weil das trübe Weià des Himmels nahtlos in die Farbe
des Schnees übergeht. Ich stelle mir vor, dass mein Vater einen Ausflug macht,
eingepackt in seinen dicken Mantel, an seinen Händen die Lederhandschuhe, ich
stelle mir vor, dass er im Wald vor dem Tiergehege steht und die Rehe und
Bisons beobachtet.
Erst spät sehe ich das Blinken des Anrufbeantworters. Obwohl ich
normalerweise nie den Knopf drücke, um die Nachrichten abzuhören, drücke ich
ihn heute doch. Ich kenne die Stimme nicht, die spricht, es ist die helle
Stimme eines Mädchens, sie sagt »hallo«, sie sagt Sätze in einer anderen
Sprache, die ich nicht verstehe, und dann sagt sie »tschüss«, sagt es ganz klar
und deutlich auf Deutsch.
Ich bleibe neben dem Telefon sitzen, bis meine Mutter nach Hause
kommt. Ich sage ihr, dass die Katze lahmt, aber da ist meine Mutter schon fast
wieder aus der Tür. Als sie gerade im Auto sitzt und losfahren will, um meinen
Vater zu suchen, sehe ich, wie mein Vater durch das Tor geht, auf dem Kopf die
Mütze, die meine Mutter manchmal lachend die Russenmütze nennt. Seine
Schneeschuhe hinterlassen tiefe Spuren im WeiÃ, in der Hand trägt er
Tannenzweige, mit denen er winkt, als er mich vor der Haustür und meine Mutter
im Auto erblickt. Meine Mutter, die die Tür des Autos aufreiÃt, die ihm
entgegenläuft, die nichts sagt, sich einfach nur an ihn drückt, und Vaters
Gesichtsausdruck, die groÃen Augen, die er macht und ganz überrascht aussieht.
»Die Katze lahmt«, sage ich noch einmal, wir stehen im Flur, meine
Eltern ziehen sich die Jacken und Schuhe aus. Ich solle mit ihr zum Arzt gehen,
sagt meine Mutter, und mein Vater kniet sich hin, legt die Zweige auf den
Boden, er streichelt die Katze am Kinn, fährt mit der flachen Hand über ihren
Rücken. Vielleicht müsse sie aber auch gar nicht zum Arzt, sagt meine Mutter,
sie lehnt sich an den Türrahmen. Wahrscheinlich sei es gar nicht so schlimm,
sie werde sich schon erholen, und Mäuse müsse sie ja sowieso keine fangen.
DAS HAUS IST ERLEUCHTET , als
stünden Kerzen hinter Fenstern aus Pergamentpapier. Zuerst hören Jan und ich
nur das Geräusch von zersplitterndem Glas, dann sehen wir die leeren Wein- und
Bierflaschen, nach Farben und GröÃe sortiert, ein paar grüne Flaschen, viele weiÃe.
Fackeln werfen Licht auf den Apfelbaum, hinter den Lavendelsträuchern bewegen
sich unruhig flatternd ihre Schatten. Julie steht vor dem Haus, steht da in
ihrem Kleid, in einer Hand eine leere Weinflasche. Sie blickt sie
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