Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
Vom Netzwerk:
an, als könne
sie sich nicht entscheiden. Sie lässt sie ins Gras fallen, setzt sich auf den
Boden. Das Haus ist unversehrt geblieben, kein Loch, keine Delle, nicht mal ein
Fleck zeugt von einem Angriff. Julie hebt die Hände, dreht die Handflächen nach
oben, als lese sie die Lebenslinien.
    Jan hält es neben mir nicht mehr aus. Er läuft auf Julie zu und geht
vor ihr im Gras in die Hocke. Julie starrt weiter auf ihre Handflächen, sie
scheint leicht zu bluten. Jan umfasst ihre Handgelenke und redet auf sie ein,
als überzeuge er sie von etwas, als wisse er ein Mittel, um sie zu beruhigen.
Sie sehen vertraut aus miteinander, nicht wie Nachbarn, die sich nur grüßen,
wenn sie sich zufällig auf der Straße vor dem Haus oder im Supermarkt begegnen.
Julie greift zum Fotoapparat, der noch immer um Jans Hals hängt, richtet die
Kamera erst auf die wenigen Scherben, dann auf ihn, der so nah vor ihr sitzt,
dass das Bild verschwommen sein wird.
    Auf dem Regal im Bad findet Jan einen Verbandskasten mit
abgelaufenem Haltbarkeitsdatum. Das sei ihr egal, sagt Julie, Pflaster sei
Pflaster, Hauptsache, es käme kein Dreck in die Wunden. Sie streckt ihre Hände
gerade nach vorne, Jan klebt die Pflaster sorgfältig auf.
    Ich gehe ins Haus und schließe die Tür hinter mir. Ich lösche das
Licht und lege mich auf meine Matratze. Ich höre, wie die Scherben in einen
Eimer geworfen werden, höre das Scharren eines Besens auf Asphalt. Ich halte
mir die Ohren zu und schlafe ein.
    DER GOLDFISCH LIEGT OHNE Schwanzflosse auf dem Flokati im Wohnzimmer und bewegt sich nicht mehr. Die
Katze sitzt auf dem Sideboard und säubert sich mit ihrer Zunge das Fell. Sie
hat immer noch keinen Namen, ich nenne sie jeden Tag, wenn ich sie füttere,
anders, ich nenne sie Mietze, manchmal Fleck, manchmal Mia. Ich passe auf, dass
es meine Mutter nicht hört, sie hat gesagt, die Katze brauche keinen Namen, sie
würde bestimmt sowieso bald verschwinden.
    Meine Mutter nimmt den Fisch mit spitzen Fingern, trägt ihn in den
Garten und wirft ihn in die Müllltonne. Die Katze folgt ihr und zieht das linke
Hinterbein nach. Neugierig hebt sie den Kopf und will auf die Tonne springen,
da gibt ihr meine Mutter einen Klaps und die Katze humpelt weg.
    Das leere Aquarium stellt meine Mutter zwischen die Fahrräder in den
Schuppen, zwischen Spaten, Rechen und Rasenmäher.
    Â»Dein Vater kann nichts mehr genießen«, sagt meine Mutter in
Vaters Anwesenheit, sie spricht es in die Pflanzen auf der Fensterbank in der
Küche, zupft Basilikumblätter vom Strauch und legt sie auf Tomatenscheiben,
schneidet Kresse und vermengt sie mit Quark. Sie stellt die Schälchen vor mich
auf den Tisch, legt zwei Scheiben Brot auf einen Teller. »Guten Appetit«, sagt
sie und verlässt den Raum. Das Deckenlicht flutet den Tisch und taucht den Rest
des Raumes in Dunkelheit. Mein Vater schenkt mir ein Glas Milch ein und setzt
sich neben mich. »Keine Butter unter den Quark«, sagt er. Sein Platz bleibt
leer, kein Teller, kein Glas.
    Mein Vater räumt das dreckige Geschirr in die Spülmaschine, geht
dann zum Kühlschrank und öffnet ihn. Ob ich noch einen Fruchtzwerg wolle, fragt
er mich und reicht mir einen Löffel. Als ich die kleine Portion aufgegessen
habe, verlässt mein Vater die Küche und ich höre im Bad das Wasser rauschen,
höre, wie er unter die Dusche steigt.
    Â 
    Mein Vater kommt vom Arzt zurück. Er legt sich ins Bett,
ich sitze neben ihm auf einem Stuhl. Mein Vater erzählt von der langen Spritze,
die der Arzt in seinen Rücken gesteckt und mit der er Flüssigkeit aus seinem
Rückenmark gezogen habe. Er verzieht das Gesicht, als habe er in eine Zitrone
gebissen. Er sagt, der Arzt müsse die Flüssigkeit jetzt untersuchen, er hoffe,
er werde diesmal etwas finden, denn wenn er nichts finde, wisse er nicht, woran
es läge, dass durch seinen Kopf immer Züge ratterten.
    Immer wieder muss ich an Vaters schmerzverzerrtes Gesicht denken. In
der Schule, auf dem Heimweg, bei Lena, bei meiner Mutter in der Buchhandlung.
Immer wieder muss ich an die Spritze denken, die sie meinem Vater in den Rücken
gesteckt haben.
    VON DEN RUFEN EINER Krähe
werde ich wach. Julie ist nicht da. Ich gehe vor das Haus und stehe im Gras, in
dem kein einziger bunter Glassplitter glänzt. Die Scherben sind verschwunden.
Ich sehe, wie eine Amselmutter ihr Nest im Apfelbaum nicht

Weitere Kostenlose Bücher