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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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Ich ziehe die unterste Schublade des Sideboards auf. »Wir müssen die
Alben nicht immer sehen«, sagte meine Mutter, als sie sie wegpackte. Ich
verstehe das nicht. Vorsichtig blättere ich die Seiten des Albums durch. Auf
fast allen Bildern ist meine Mutter abgebildet, lachend, in Blümchenkleidern
und dunklen Strumpfhosen, oft ist mein Vater mit ihr zusammen darauf, als haben
sie den Selbstauslöser der Kamera eingestellt, nur selten gibt es andere Leute,
Freunde meiner Eltern, die auch fotografiert wurden, vielleicht eine Handvoll.
Sie sitzen im Garten an provisorischen Tischen, sie sitzen auf einer Mauer, die
ich nicht kenne, mit ihren ärmellosen Shirts und Sonnenbrillen sieht es nach
einem Urlaubsfoto aus.
    Es gibt nur ein einziges Foto, auf dem wir zu dritt zu sehen sind:
Wir stehen vor unserem Weihnachtsbaum, Vater trägt eine zu große Brille,
Mutters Wangen sind rot geschminkt, ich stehe in der Mitte, habe einen
Kassettenrekorder in den Händen und gucke sehr ernst.
    Ich löse das Foto langsam aus dem Album heraus, Klebstoffreste
bröckeln zwischen meinen Fingern. Meine Mutter schließt die Terrassentür und
nimmt mir das Album aus der Hand. »Immer diese Fotos«, sagt sie und schiebt mit
dem Fuß die Schublade zu.
    Â»Das ist das Schönste«, sage ich und strecke meinem Vater das Foto
entgegen. Er lächelt mich an, nimmt das Foto nicht, dass das Foto für mich sei,
sagt er, und dass ich es einmal in der Mitte knicken und in mein Portemonnaie
stecken solle. Vielleicht weiß er, dass die Alben verloren gehen werden, dass
ich keines der Bilder werde behalten können und dass dieses Foto das Einzige
ist, das die Zeit überdauern wird. Ich trage es immer bei mir.
    ES IST DUNKEL IM KELLER und
kalt. Baked Beans steht auf einer der vielen Konserven, die auf den vier
Regalen entlang der Wände aufgereiht sind. Mais, Brechbohnen, Kichererbsen,
Eintopf, als habe jemand ein Lager vorbereitet, um eine Zeit unter der Erde zu
überbrücken. Als ich mit dem Finger über die bedruckten Etiketten fahre, bleibt
Staub an ihm zurück. Ich habe Gänsehaut auf meinen Armen. Julie zieht eine
kleine Holzkiste aus dem Regal, es folgt ein kleiner Aufschrei, als habe sie
etwas entdeckt, das sie schon lange gesucht hat. »Leer!«, sagt sie, als sie
wieder aufschaut.
    Ich habe nicht geglaubt, hier unten etwas zu finden, von
dem ich lange vergessen hatte, dass es existiert, etwas, das mich an die Zeit
in unserem großen Haus erinnert, das Haus mit den Wänden voller dunklem Efeu,
mit dem Schuppen und der Hecke, mit dem Blick auf die Felder und dem Blick zur
Stadt, dem Anschluss zur Welt. Ich habe es nicht geglaubt, aber ich habe es mir
gewünscht, und jetzt stehen nur bunt bedruckte Konserven mit längst
abgelaufenem Haltbarkeitsdatum vor mir. Die Enttäuschung lässt meine Zunge
pelzig werden, ein dicker, mit Fell überzogener Lappen.
    Ein paar von Julies Gästen haben sich entlang der Kellertreppe
positioniert, sie recken die Hälse, um etwas zu sehen, aber die Neugier in den
Blicken verliert sich schnell. Ich spüre einen Kloß im Hals und gehe an den
Gästen vorbei nach oben.
    Jan steht mit einem goldglänzenden Ponymädchen neben den Südfrüchten
und lacht, ich höre, wie er von seinen Entwürfen spricht, von seinen Modellen,
die drüben im Haus stehen. Das Mädchen nickt, stellt sein Weinglas auf die
Kommode und nimmt eine Ananasscheibe vom Silbertablett, schiebt sie Jan in den
Mund. Dann stimmen ein paar der Gäste ein Geburtstagslied an, es ist zwölf Uhr.
    Julie kommt die Treppe nach oben und lächelt, wie ich sie noch nicht
habe lächeln sehen. Sie hat noch immer die Holzkiste in der Hand, mit der
anderen umgreift sie ihr Medaillon. Die Gäste singen ›Joyeux Anniversaire‹ ,
Wunderkerzen, Kuchen, sie stehen in einer Reihe und singen das Lied. Julie holt
sich bei jedem Gast einzeln Geburtstagsküsse und Geschenke ab, ich stehe in der
zweiten Reihe, mich sieht sie nicht.
    Das Feuer vor dem Haus erhellt die Nacht. Hier draußen kommen
die Partygeräusche nur gedämpft an, ich habe mich ins Gras gesetzt und ertränke
meine Gedanken in einem letzten Schluck Wein. Abwechselnd starre ich in das
Feuer und denke an die Sonnenfinsternis vor ein paar Jahren und daran, ob man
die Augen auch schützen muss, wenn man nur in ein Feuer schaut. Dann sehe ich
wieder durch das Fenster und sehe die Gäste im

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