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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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Zug in eine andere Stadt, sie ist
nicht sehr weit entfernt. Ich schaue während der Fahrt aus dem Fenster und sehe
Erdbeerpflücker mit Hut, die Rücken rund, die Hände flink, die Sonne scheint
auf sie hinab.
    Die Stadt, in der die Klinik liegt, ist klein. Vom Bahnhof aus kann
ich zu Fuß gehen. Es riecht komisch in der Klinik, nach Schwimmbad und
abgestandener Luft. In den Gängen gehen Patienten in Jogginghosen und mit
bleichen Gesichtern umher, die nicht zurückgrüßen, als ich an ihnen vorbei zu
meinem Vater ins Zimmer gehe. Er wartet. Er sitzt auf dem Bett, lehnt sich mit
dem Rücken an ein dickes Kissen. Er lächelt, als er mich sieht. »Danke für die
Fotos, Juno«, sagt er.
    Ich fotografiere meinen Vater in seinem hellblauen Jogginganzug auf
seinem Metallbett sitzend, ich fotografiere ihn in der Cafeteria. Wir trinken
Kakao.
    Mein Vater sieht aus dem Fenster. Ich weiß nicht, was ich ihn fragen
soll, aber dann frage ich doch: »Was machst du den ganzen Tag?« Er sagt, dass
er mit anderen Patienten und Ärzten spreche, dass er Speckstein zu Figuren
verarbeite und dass er Sport mache. Wie es zu Hause sei, fragt er. Dass meine Mutter
die ganze Zeit Blumen kaufe, als lebten wir in einem Blumenladen, erzähle ich
meinem Vater. Dass sie einen Korb an ihrem Fahrrad befestigt hat, in dem sie
die Lebensmittel für das Mittagessen in die Buchhandlung transportiert, erzähle
ich, und dass sie sich freue, so viel an die frische Luft zu kommen, und nur
meckert, wenn es regnet. Ich erzähle ihm von Blaubeerpfannkuchen und
Ahornsirup, die ich mir für ihn wünsche, wenn er wiederkommt.
Blaubeerpfannkuchen esse ich am liebsten.
    Auf dem Rückweg schaue ich wieder aus dem Zugfenster, ich sehe keine
Erdbeerpflücker mehr auf den Feldern. In meiner Hand halte ich einen Delfin aus
Speckstein. Ich denke an meinen Vater und stelle mir vor, wie er mit vielen
anderen Leuten in einem Stuhlkreis sitzt und redet.
    WÄHREND ICH GEDUSCHT UND mich umgezogen habe, waren Jan und Julie einkaufen und haben ein Feuer im Garten
gemacht. Die Holzscheite sind lehrbuchhaft geschichtet und aneinandergelehnt,
manchmal zischt und knackt es und der Haufen fällt ein bisschen in sich
zusammen, Rauch steigt auf, dazwischen kleine Funken wie ein Feuerwerk.
    Südfrüchte, Melonen, Ananas, Zitronen und Papaya liegen auf der
Kommode, und Julie sagt, dass gleich ein paar Leute kämen, das sei schon lange
ausgemacht. Sie schneidet die Früchte in Streifen, drapiert sie auf einem
silbernen Tablett, schleckt sich die nassen Finger ab.
    Es dauert nicht lange und die Räume im Haus sind gefüllt, überall
sind Menschen, überall französische Sätze. Jan stellt die Musik noch etwas
lauter und zündet die Kerzen auf den Fensterbänken an. Julie habe morgen
Geburtstag, sagt er, deswegen feiern wir heute, und ich frage mich, wann ich
das letzte Mal Geburtstag gefeiert habe, wann Gäste bei mir waren oder bei uns,
wann ich Glückwünsche empfangen habe und Umarmungen, mir ein Kuchen gebacken
wurde. Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich erinnere mich, dass meine Mutter
sagte, dass sie für Vaters Geburtstag eine Idee habe, dass es eine Überraschung
werde. Ich erinnere mich an unsere Vorbereitungen im Garten und in der Küche
und daran, dass es das letzte Mal war. Meine Mutter, die danach nie wieder eine
Idee für einen Geburtstag hatte, und ich, die verlernt hat, wie man Geschenke
aussucht und sie verpackt, wie man Geschenke annimmt oder was man antwortet,
wenn man nach einem Wunsch gefragt wird.
    MEIN VATER IST JETZT JEDEN Tag zu Hause, manchmal schreibt meine Mutter ihm Zettel. »Im Garten Laub
rechen« steht darauf, oder »mit dem Auto in die Waschanlage fahren«, oder
»einkaufen gehen, frag Juno, ob sie mitgehen möchte«. Wenn ich von der Schule
nach Hause komme, ist meistens noch nichts davon gemacht. Ich mache meine
Hausaufgaben, ziehe meine Jacke und die Gummistiefel an, gehe in den Garten,
hole den Rechen aus dem Schuppen und kehre das Herbstlaub zusammen. Manchmal gehe
ich einkaufen, die Sachen lade ich in den Fahrradkorb, oder ich frage meinen
Vater, ob wir in die Waschanlage fahren.
    Das Wasser prasselt auf uns hinab, wir bleiben im Auto
sitzen. Ich mag die verschwommene Sicht durch die Frontscheibe. Plötzlich höre
ich Vater weinen. Es ist das erste Mal, dass ich ihn so sehe. Ich versuche, ihn
zu umarmen, so, wie ich es mit Lena mache,

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