Sommertochter
wir den Anschluss zur Welt«,
hat meine Mutter einmal gesagt. Ich höre ein Geräusch und gehe in den Flur,
mache die Haustür auf. Ich sehe, wie meine Mutter dem Taxifahrer Geld gibt. Das
Licht über der Haustür strahlt sie an, als sie die Treppenstufen hinaufläuft,
die Wangen blass, der Lippenstift frisch aufgetragen, die Tasche in der Hand.
Das Auto sei kaputtgegangen, sagt sie und streicht mir übers Haar,
ihre Hand ist kalt. Ihre Hausschuhe sind voller Matsch. »Papa ist ins Bett
gegangen«, sage ich, »natürlich«, antwortet meine Mutter. Sie hält meine Hand
fest, dreht die Innenfläche nach oben, das Blut ist getrocknet, die Wunde
klafft auf. Aus dem Badezimmer holt sie einen Waschlappen, Pflaster und Schere,
versorgt die Wunde.
Der Mond erleuchtet das Zimmer, ich habe Durst. Als ich die Treppe
zur Küche hinuntergehe, sehe ich, dass im Wohnzimmer noch Licht brennt. Meine
Mutter sitzt zwischen den Agaven und Zitrusbäumen im Sessel, der Kopf an der
Lehne. Sie hat sich nicht umgezogen. Als ich näher komme, höre ihr
gleichmäÃiges Atmen.
JULIE SETZT SICH AUF die
vordere Bank und gibt den Kapitän, Jan und ich schieben das Boot mit
hochgekrempelten Hosen ins Meer.
Wir springen zu ihr ins Boot. Julies Haut ist gebräunt, meine immer
noch rot. An Land steht Camille, die Hände in die Seiten gestemmt, sie winkt
und lächelt, bleibt noch lange so stehen. Jan rudert, wir kommen kaum voran.
Jan hört abrupt auf und sagt: »Habt ihr euch schon mal zusammen im
Spiegel angesehen? Eure Haare haben die gleiche Farbe.« Er beugt sich nach
vorne, nimmt eine Strähne von Julies Haar, zieht eine Strähne aus meinem Zopf
und hält sie gegen die Sonne.
Jan hört auf zu rudern, Julie und ich übernehmen die Paddel. Jan
knipst Fotos von Julie und mir. Immer wieder das Klicken, wenn er auslöst und
den Film weiterspult. Eigentlich müsste der Film schon längst voll sein.
»Hört mal kurz auf«, sagt Jan, er reicht Julie die Kamera, zieht
mich nach hinten zu sich, mein Paddel fällt ins Boot. Ich ertrage seine Hände
auf meinen Armen nicht, schiebe sie weg, und Julie drückt ab, spult den Film weiter,
drückt wieder ab. Ich befreie mich, nehme Julie die Kamera ab und werfe sie Jan
in den SchoÃ.
Ich springe ins Meer und habe sofort Gänsehaut am ganzen
Körper, so kalt ist es. Als ich auftauche, schnappe ich nach Luft. Mit
schnellen Bewegungen schwimme ich zu den Klippen, suche irgendwo Halt und taste
die Felsen ab, aber ich finde nichts. Julie und Jan sitzen wartend und
schweigend im Boot, die Wellen haben es nicht weggetrieben.
»Wir müssen zurück«, ruft Jan. Ich werde es nicht schaffen, die
ganze Strecke zur Anlagestelle zurückzuschwimmen, nehme tief Luft und tauche
zum Boot. Ich strecke Jan meine Arme entgegen, er zieht mich ins Boot und Julie
wirft mir ein Handtuch zu. Langsam fühle ich, wie Wärme zurück in meinen Körper
strömt. An meinen Beinen bilden sich rote Flecken.
AN MEINEM GEBURTSTAG IST mein
Vater nicht da. Ich werde elf. Meine Mutter schenkt mir eine Kamera, sie sagt,
es sei die Idee meines Vaters gewesen, sie hoffe, dass ich mich darüber freue.
Die Kamera ist klein und schwarz, hat einen Blitz und ein Bändel, an dem ich
sie mir ums Handgelenk schnüren kann. Ich fotografiere meinen Weg zur Schule,
ich fotografiere mein Fahrrad, ich fotografiere Lena in ihrem Zimmer, ich
fotografiere die Katze, ich fotografiere meine Mutter in ihrer Buchhandlung,
fotografiere den Efeu am Haus, ich fotografiere den Himmel mit seinen weiÃen
Schlieren. Ich lasse die Fotos entwickeln und hänge sie in meinem Zimmer auf.
Mutter kommt in mein Zimmer und sagt, dass die Fotos sehr schön
seien. Sie gibt mir einen Briefumschlag. Ich solle doch zwei Fotos raussuchen
und sie meinem Vater in die Klinik schicken, sagt sie.
Meine Mutter kauft Pflanzen, sie kauft kleine Palmen im
Baumarkt, sie kauft Blumen mit bunten Blüten in grauen Töpfen in der Gärtnerei,
sie kauft Samen für Sonnenblumen und Fingerhut im Supermarkt. Es blüht und
wächst bald im ganzen Haus und im Garten, jeden Tag kommt etwas Neues dazu.
Zuerst sagen sie, dass wir meinen Vater in der Klinik
nicht besuchen dürfen, er brauche Ruhe, doch dann heiÃt es plötzlich, Besuch
sei höchsterwünscht. Meine Mutter kauft mir das Zugticket und legt es an meinen
Platz am Frühstückstisch. Ich fahre mit dem
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