Sommertochter
wenn sie traurig ist. Aber mein
Vater hört nicht auf zu weinen. Seine Augen sind ganz klein und rot. Er habe
keine Arbeit mehr, sagt er, sie haben ihm gekündigt. Mit den Händen fährt er
die Ablage entlang, sucht ein Taschentuch und findet keins. Dann öffnet er die
Tür, das Wasser dringt ins Auto ein, die Sitze sind schnell nass. Er weicht den
Reinigungsbürsten aus und bleibt im Waschanlagenregen stehen. Hemd und Hose
kleben an seinem Körper. Er verschwimmt und bald schon kann ich ihn nicht mehr
erkennen.
WIR TRINKEN VIEL , die Korken
ploppen. Jan öffnet eine Weinflasche nach der anderen und schenkt den Wein in
immer neue Gläser aus. Als es keine frischen mehr gibt, holt Jan noch Gläser
aus seinem Haus.
Die Musik ist laut und lässt den Brustkorb vibrieren, auf dem Boden
sitzen Mädchen im Schneidersitz, sie haben akkurat geschnittene Ponys und
T-Shirts in Gold- und Silbertönen, sie sehen so gar nicht französisch aus, und
ich frage mich, woher die ganzen Leute kommen, wo sich die Jungen den Tag über
verstecken, welchen Strandabschnitt sie eingenommen haben, der abseits von den
Familienstränden liegen muss, oder ob sie in den Dörfern im Inland leben und
nur manchmal an die Küste fahren, ob sie die Verkäufer in den Souvenirshops
sind, in den Crêperien, in den Bäckereien, ob sie tagsüber T-Shirts tragen, auf
deren Rückseite das Logo des Ladens prangt und sie erst abends in ihre eigenen
Kleider schlüpfen dürfen.
Ich drehe mich zu dem Mann, der neben mir am Fenster lehnt, wir
stoÃen unsere Gläser aneinander, das Klirren ist ein beruhigendes Geräusch,
eines, das genauso klingt, wie man es erwartet. Der Mann sieht aufgeräumt aus
und er sagt aufgeräumte Dinge: Er mache ein Auslandssemester in Rennes, einer
gröÃeren Stadt, etwas entfernt von hier. Den Sommer über wolle er noch die
Küste und das Meer genieÃen, und er zwinkert mir zu, als wüsste ich, was er
meint. Ich nehme einen Schluck vom Wein und sage, dass ich mich manchmal frage,
ob er es schon lange geplant hatte, oder ob er es schon mal versucht hatte und
es nicht klappte, weil er zu früh gefunden wurde, weil er zu wenig genommen
hatte, weil er die Technik nicht beherrschte. Der Mann fährt sich langsam durch
die Haare, trinkt einen Schluck, und er nickt, obwohl er nicht wissen kann,
wovon ich spreche. Aus den Augenwinkeln sehe ich Julie und Jan. Julie spricht
mit ihm, er schüttelt den Kopf, stellt frische Gläser auf die Kommode. Julie
legt ihre Hand auf seinen Arm.
Der Mann will etwas sagen, aber ich komme ihm zuvor, ich sage: »Oder
plant man es gar nicht, verlässt man seine Familie einfach so, von heute auf
morgen, von jetzt auf später, blitzt die Idee einfach auf und man zieht es dann
durch?«
Ich atme tief ein, der Mann blickt sich suchend um. Ich erwarte
keine Antwort, ich drehe mich um und gehe zu Jan, der von Wein auf Bier
umgestiegen ist und jetzt auch diese Flaschen öffnet, immer mehr Flaschen, er
öffnet die Bierflaschen, schnippst die Kronkorken in eine Ecke und drückt jedem
eine Flasche in die Hand.
Wir trinken weiter, wir bilden eine neue Reihe aus Flaschen an der
Wand, und als die Getränke knapp werden, sagt Julie, ich solle jetzt endlich
den Keller aufschlieÃen, Julie, mit dem Rotweinmund, ihre Lippen trocken und
rot. Mit wartendem Blick und einer Hand in die Seite gestemmt trinkt sie den
letzten Schluck aus ihrem Glas, ich frage mich, woher die Dringlichkeit in
ihrer Stimme stammt. Ich spüre den kalten Schlüssel an meinem Oberschenkel und
werfe ihn Julie zu. Ich frage mich, warum sie die Tür nicht schon längst
aufgebrochen hat, wenn sie es nicht erwarten kann, mit einem Stemmeisen in der
Hand, Jan hätte ihr sicherlich geholfen. Mit einer schnellen Bewegung wirft
Julie mir den Schlüssel wieder zurück.
AM TAG, BEVOR MEIN Vater in
die Klinik fährt, gehe ich ins Schlafzimmer, setze mich auf das Bett und sehe
zu, wie er seinen Lederkoffer packt. Wir werden ihn nicht besuchen dürfen und
uns vier Monate nicht sehen, heiÃt es. Er nimmt Unterhosen und Unterhemden,
Pullover und Hosen, legt sie ordentlich gefaltet in den Lederkoffer, die
Hausschuhe wickelt er vorher in eine Plastiktüte. »Ich würde gerne ein Foto von
uns dreien mitnehmen«, sagt er und fragt mich, ob ich es aussuchen wolle.
Im Wohnzimmer steht die Tür zur Terrasse offen, Frühlingslicht fällt
hinein.
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