Sommertochter
stelle es auf.
Ein Auto hält direkt hinter dem Transporter, es ist Camille. »Salut«, sagt sie und dann, ohne eine Antwort abzuwarten, sagt sie, wir sollen
einsteigen und den Transporter einfach hier stehen lassen.
MIT SCHNELLEN GRIFFEN HOLT meine Mutter Taschen aus dem Wandschrank im Flur, sie zieht sie einfach an den
Trageriemen heraus und lässt sie auf den Boden fallen. »Pack Sachen«, sagt sie,
»was du so brauchst.« Ich ziehe die Tasche hinter mir die Treppe hinauf. Ich
weià nicht, was das heiÃt: was ich so brauche. Ich werfe Kleider, Strumpfhosen,
T-Shirts in die Tasche. Dann laufe ich die Treppen wieder herunter. Im
Wohnzimmer nehme ich das Foto im Goldrahmen vom Sideboard, auf dem meine Eltern
so jung aussehen. Auch jetzt ist meine Mutter noch keine alte Frau und trotzdem
schon Witwe und ich bin gerade auf das Gymnasium gekommen und schon Halbwaise,
das Wort habe ich neu gelernt.
Ich schiebe den Bilderrahmen unter mein T-Shirt, drücke ihn an
meinen Bauch und gehe die Stufen wieder hinauf in mein Zimmer. Ich lege den
Rahmen ganz nach unten in meine Tasche, ziehe den ReiÃverschluss zu und setze
mich auf mein Bett. Ich warte. Manchmal höre ich es unten im Haus scheppern,
dann höre ich eine Tür knallen, meine Mutter ist sehr laut. Irgendwann höre ich
gar nichts mehr.
Ich träume. Ich bin in einem schwarzen Raum, die Dunkelheit nimmt
mich auf. Ich sehe nichts, ich krabble ein Stück auf allen vieren, bis ich
sehe, dass vor mir ein Schacht liegt. Mit dem Kopf zuerst lasse ich mich
hineinfallen, ich falle und falle.
Mit klopfendem Herzen wache ich auf und bin sofort hellwach, langsam
gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Meine Mutter hat mich vergessen,
hat ihre Tasche genommen und die Tür leise ins Schloss fallen lassen. Der
Taxifahrer hat gefragt, ob sie auch alles habe, und meine Mutter hat genickt,
auf die Tasche gezeigt und gesagt, »mehr brauche ich nicht.«
Schnell laufe ich die Treppen hinunter, rutsche fast auf dem glatten
Boden aus, kann mich gerade noch am Geländer festhalten. Noch von den Stufen
aus sehe ich meine Mutter vor der Kellertür stehen. Sie hat die Klinke in der
Hand und schaut hinab in die Dunkelheit, als erwarte sie, dass jemand
hochkommt. Meine Mutter dreht sich nicht um, obwohl das Holz unter mir ächzt
und quietscht. Ich umarme sie von hinten und drücke meine Wange an ihren
Rücken.
CAMILLE FÃHRT UNS MIT ihrem
klapprigen Auto zurück nach Coulard zur Ambulanz. Wir sollen uns durchchecken
lassen, sagt sie, Aufprall, Gehirnerschütterung, man dürfe damit nicht spaÃen,
sie klingt fast wie eine Mutter. Wir sollen doch mal auf einen Aperitif in der
Bar vorbeikommen, sagt sie zum Abschied.
Vor der Ambulanz hängt ein Poster, darauf bunte Luftballons,
Zuckerwatte und in Blockschrift »FÃTE DâÃTë , ein
Sommerfest, das diese Woche hier an der Strandpromenade stattfindet. Schon auf
der LandstraÃe habe ich das Plakat immer wieder gesehen, an Bäumen befestigt,
an Laternenpfähle und Stromkästen geklebt.
Zuerst war Julie stumm, aber jetzt hört sie gar nicht mehr auf zu
reden, sie monologisiert, ohne dass das Gesagte irgendwo hinführe. »Wo ist mein
Medaillon?«, sagt sie, greift sich an den Hals und spürt, dass es immer noch da
ist. »Wir müssen das Haus renovieren, wir müssen die Fensterläden in Seegrün
streichen, ich habe nur die erste Schicht angebracht, noch ist es nicht
wetterfest«, sagt sie, dann summt sie die Melodie von âºHört der Engel helle
Liederâ¹ und kichert. Jan nimmt sie an die Hand.
Wir treten in die Ambulanz, ein von Neonlicht dominierter Raum, der
unsere Haut fahl und ungesund aussehen lässt. Männer in weiÃen Kitteln, die uns
keine Beachtung schenken, eine Frau mit Brille und blonder Dauer- welle, die an
einem Tisch hinter einer Glaswand sitzt und uns streng anschaut. Unsere
Versicherungskarten wolle sie sehen, sagt sie, sonst könne sie uns nicht
aufnehmen. Jan sucht in seiner Hosentasche und findet nichts, dabei lässt er
Julies Hand nicht los. Julie hat keine Tasche dabei und ich habe im Jutebeutel
nichts auÃer der Bilder, wir haben keine Ausweise, keine Karten, nichts. »Wir
müssen das Haus renovieren, Juno«, sagt sie und lässt Jans Hand los, »wir
müssen es schön machen.« In ihrem Kleid, mit ihren groÃen Augen und ihren
ständigen Wiederholungen wirkt Julie, als
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