Sommertochter
ich bin kühl. Jan kommt auf mich zu, verlangt nach
der Kamera und nimmt mir dann auch die Fotos aus der Hand, blättert sie wie in
Zeitlupe durch. Das Abendlicht spiegelt sich auf der glänzenden Oberfläche der
Bilder. Jan blickt sich hilfesuchend um, bis Julie von der Schaukel aufsteht
und sich neben uns stellt. Julie, die Jan die Fotos aus der Hand nimmt, die
»Ja, und?« fragt, »was ist nun?« »Ihr wart ein Paar«, sage ich, »das hättet ihr
mir ja auch mal erzählen können.« »Man muss nicht immer alles erzählen«, sagt
Julie, »und auÃerdem waren wir nie ein Paar.« Jan sagt nichts.
Jan kommt ins Haus und setzt sich neben mich. Ich streiche
über seine Narbe am Kinn, über seinen Nacken, denke an die Schlägerei in einem
Jugendzentrum. Das Stück fehlende Haut, die vernarbten Quadratzentimeter, sagt
er, es sei ein Feuerwerkskörper an Silvester gewesen. Sie seien mit vielen
anderen an einer Brücke gestanden, wo sie das neue Jahr mit Raketen und
krachenden Geschossen feierten, mit Goldfontänen und Chinaböllern, doch
irgendjemand hatte nicht darauf geachtet, wohin sein Geschoss flog, und so habe
sich ein surrender Schmetterling in seinem Schal verfangen und klebte in seinem
Nacken fest. Noch in der gleichen Nacht schnitt ihm ein Arzt im Krankenhaus den
Schmetterling wieder aus dem Nacken. Fünf Tage musste er dort bleiben,
Oberschenkelhaut wurde ihm an den Hinterkopf transplantiert.
Ich wache mit klopfendem Herzen auf, es ist mitten in der
Nacht, der Mond scheint quer durch das Zimmer und über mein Gesicht, dass er
mich fast blendet. Ich habe schlecht geträumt. Ich höre leise das Transistorradio
rauschen, als mache der Sender eine Pause, als müsse auch er schlafen, sich
eine Auszeit nehmen. Ich will nicht gleich wieder einschlafen, will nicht dort
weiterträumen, wo ich aufgeschreckt bin. Kurz setze ich mich an den Rand der
Matratze, spüre, wie mein Kreislauf langsam in Schwung kommt. Vor dem Fenster
steht Nebel, nur der Mond leuchtet hell durch das WeiÃ. Ich stehe auf und öffne
die Tür, trete vor das Haus, sehe kaum die Hand vor meinen Augen. Ich gehe am
Apfelbaum vorbei, bleibe auf dem Weg am Strommast stehen. Jans Transporter
steht vor dem Haus, jemand muss ihn abgeschleppt haben, nichts erinnert an den
Unfall. Für einen Moment verlieren sich meine Gedanken.
WIR LASSEN DIE KATZE am
Schuppen zurück. Sie wird sich schon zurechtfinden, sagt meine Mutter, das habe
sie doch früher auch schon gekonnt. Zum Abschied kraule ich die Katze lange und
stelle ihr eine Schale mit Futter auf die Terrasse, das sie sofort auffrisst.
In den Zimmern der Pension bedeckt Blümchentapete die
Wände, die sich wie Stoff anfühlt. Wir stellen unsere Taschen ab, ich lasse
mich rückwärts aufs Bett fallen. Ich frage mich, wie lange wir hier bleiben
werden und warum wir nicht weiter im Haus wohnen. Ich betrachte die alten Heizkörper,
die geschwungenen Türklinken. Ich warte. Ich weià nicht, was ich sonst tun
soll.
Das Erste, was meine Mutter macht, nachdem sie die Tür hinter uns
geschlossen hat, ist, den groÃen Lampenschirm von der Decke abzunehmen. Im Bad
klopft sie ihn über dem Waschbecken aus und spült die Spinnen, Fliegen und
Käfer den Abguss hinunter. Sie holt ein Handtuch aus ihrem Lederkoffer und
wischt über die glatten Flächen. Mit dem Desinfektionsspray besprüht sie die
Griffe, bleibt dann im Bad, ich höre erst das Wasser rauschen, dann die
Klospülung. Als das Wasser in der Dusche angeht, weià ich, dass meine Mutter
jetzt im Bad bleibt, so wie in den vergangenen Tagen, wenn sie nichts mehr zu
räumen oder zu packen oder einzukaufen hatte. Sie schlieÃt die Tür zum
Badezimmer ab und macht die Dusche an, der Dunst kriecht langsam durch den
Schlitz unter der Tür und bedeckt den Spiegel im Flur mit einer milchigen
Schicht. Der Dunst hinterlässt einen feuchten Film auf meiner Stirn, er klebt
meinen Pony fest, er macht mich müde und schläfrig. Ich lege mich auf das Sofa
im Wohnzimmer, kauere mich zusammen.
Ich wünsche mir, dass meine Mutter etwas darüber sagt, wie
sie sich fühlt. Ich wünsche mir, dass sie zu mir sagt: »Juno, es ist schwierig,
ich weià das, aber wir schaffen es, das Schlimme wird vorbeigehen.« Ich wünsche
es mir, obwohl ich weiÃ, dass meine Mutter wahrscheinlich lügen müsste, weil
sie gar nicht weiÃ, wie
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