Sommerzeit
Hunger!«
Tanja riss die Kühlschranktür auf und nahm Käse, Salami und Sabines hausgemachte Frikadellen vom Vortag heraus.
»Hast du heute noch nichts gegessen?«, fragte Vera,
während sie belustigt den wachsenden Berg an Nahrungsmitteln auf dem Tisch musterte.
»Bin ich nicht dazu gekommen.«
Tanja hielt mitten in der Bewegung inne, lächelte ihre ältere Schwester geheimnisvoll an und zwinkerte ihr zu.
»Was ist los, sag schon«, sagte Vera seufzend. »Wer ist es jetzt?«
Der Charme ihrer jüngeren Schwester war bezaubernd, und sie wusste das auszunutzen. Für sie war es ein Sport, Männer schwachwerden zu lassen.
»Das willst du gar nicht wissen«, sagte Tanja triumphierend, ließ sich Vera gegenüber auf einen Stuhl fallen und schmierte sich Erdnussbutter auf eine Schnitte.
»Hör doch auf, erzähl endlich«, forderte Vera. »Ich sag’s ja nicht weiter.«
»Versprochen?«
»Ja, versprochen.«
»Peter.«
»Was denn für ein Peter?«
»Peter Hartmann, mein Philosophielehrer.«
»Hast du denn total den Verstand verloren? Du spinnst doch! Ein Lehrer! Wie ist das passiert?«
»Ach, du weißt schon, ich bin heute nach der Stunde noch in der Klasse geblieben, um zu fragen, was morgen in der Klausur an die Reihe kommt. Als wir also so standen und redeten, habe ich plötzlich eine Spannung zwischen uns bemerkt. Ihm ist es offenbar auch so gegangen, denn er hat meinen Arm gestreichelt und mich zu einem Kaffee eingeladen. Und dann …«
Sie wurde davon unterbrochen, dass die Tür aufging. Ihr Vater kam freitags immer früher nach Hause, und ihm von ihren Liebesabenteuern zu erzählen, war ausgeschlossen.
Vor allem dann, wenn es um einen Lehrer ging.
»Hallo, Mädels«, rief Oleg fröhlich, blieb in der Küchentür stehen und lächelte. In der Hand hielt er einen Briefumschlag.
»Was ist das denn, Papi?«, fragte Tanja. »Ist was Schönes passiert?«
Oleg schlug mit dem Umschlag gegen den Türrahmen.
»Das kann man wohl sagen«, sagte er triumphierend. Dann kam er herein, gab jeder Tochter einen Kuss auf die Wange und setzte sich auf den Stuhl neben Tanja.
»Aber ich erzähle erst, wenn Mama da ist«, sagte er dann.
»Nein«, protestierten beide Töchter. »Bitte sofort!«
»Na gut.«
Sie räumten das Essen beiseite, um den Tisch frei zu haben.
Oleg öffnete den großen Umschlag und zog eine Broschüre und einige Fotos heraus.
Er hielt den Mädchen die Broschüre hin. Vera beugte sich vor, um besser sehen zu können.
Auf dem Bild war ein Sandstrand mit einigen Gräsern im Vordergrund zu sehen. Der Himmel war kornblumenblau. Es sah aus wie ein herrlicher Strand irgendwo auf den Kanarischen Inseln. Dann lasen sie die Unterschrift. Gotska Sandön.
»Was bedeutet das? Fahren wir dahin?«, fragte Tanja eifrig.
Ohne zu antworten zeigte der Vater die Fotos, eins nach dem anderen. Sonnenuntergang über glitzerndem Wasser, lange, breite Sand- und Kieselstrände, einsamer
Wald, gewaltige Scharen von exotischen Vögeln, eine Geröllhalde und knuddelige Seehunde, die sich auf Felsen in der Sonne fläzten.
»Ja«, seufzte er. »Endlich.«
»Aber da dürfen doch keine Ausländer hin«, wandte Vera ein. »Du hast doch gesagt, dass es militärisches Sperrgebiet ist.«
»Ja, aber endlich habe ich eine Ausnahmebewilligung bekommen. Die Bezirksregierung auf Gotland erlaubt mir die Reise, weil mein Urgroßvater dort begraben ist.«
»Aber, Papa, das ist ja fantastisch.«
Tanja umarmte ihn begeistert. Vera betrachtete ihren Vater. Oleg sprach über Gotska Sandön, so lange sie sich zurückerinnern konnte. Er arbeitete als Biologe, gehörte einer ornithologischen Vereinigung an und war in ihren Augen unbegreiflich naturinteressiert. Gotska Sandön war Naturschutzgebiet, und er hatte zahllose Male von der fantastischen Natur und dem reichen Pflanzen- und Vogelleben auf der Insel erzählt. Mehr wusste sie kaum darüber. Nur, dass Gotska Sandön zu Schweden gehörte und bei einer großen Insel namens Gotland lag.
»Dürfen wir auch mitkommen?«
»Ja, natürlich. Ich hab Mama noch nichts gesagt, ich wollte sie überraschen.«
»Ach, das wird herrlich«, sagte Tanja. »Wann fahren wir?«
»In ungefähr drei Wochen. Wir fahren am 16. Juli nach Schweden und übernachten in Stockholm. Das soll doch so eine schöne Stadt sein. Dann fliegen wir nach Visby auf Gotland und verbringen auch dort eine Nacht. Und danach nehmen wir das Boot nach Gotska Sandön und bleiben da eine Woche.«
»Aber wo werden wir wohnen?«,
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