Sommerzeit
geworden. Sie hatte nicht sitzen bleiben können, in ihrem Kopf hatte sich alles gedreht. Sie hatte sich damit entschuldigt, dass sie pinkeln musste, war ins Gebüsch gekrabbelt, hatte sich übergeben und war dann in ihren Schlafsack hinter dem Windschutz gekrochen. Hatte nur ein wenig liegenbleiben wollten, bis ihre Übelkeit sich gelegt hatte. Aber offenbar war sie dann eingeschlafen.
Noch einmal hob sie einen Zipfel des Windschutzes und spähte aufs Meer hinaus. Das Boot war nicht mehr da. Sie ließ sich wieder in den Schlafsack sinken. Ihre Kehle war wie ausgedörrt, ihr war heiß, und sie hatte schrecklichen Durst. Mühsam stand sie auf, holte sich eine Wasserflasche und trank. Pinkelte am Waldrand, wusch sich danach im Meer. Ihr Schädel dröhnte, und sie war krank vor Unruhe. Wo mochte ihre Schwester stecken? Was, wenn ihr etwas passiert war?
»Tanja«, rief sie laut.
Sie lief den ganzen einsamen Strand ab, ohne ihre Schwester zu finden. Suchte im weiter oben gelegenen Wald. Je länger sie suchte, umso größer wurde ihre Angst. Der paradiesische Strand erschien ihr plötzlich bedrohlich und ungastlich.
Um zwei Uhr gab sie auf und packte alles zusammen, was sie tragen konnte. Sicherheitshalber ließ sie Windschutz, Proviant und Wasser und Tanjas Rucksack zurück. Sie schrieb einen Zettel und erklärte, sie sei zum Zeltplatz zurückgegangen.
Ehe sie den Strand verließ, drehte sie sich ein letztes Mal um. Suchte die Umgebung noch einmal mit einem langen Blick ab.
Aber es war nichts zu sehen.
Montag, 24. Juli
D ie Hitze im Kalksteinbruch war fast unerträglich.
Morgan Larsson wischte sich den Schweiß von der Stirn und verließ seine Bürobaracke im westlichen Teil des Steinbruchs, gleich neben der Waschhalle für Last-und Lieferwagen.
In der sengenden Sonne stieg die Temperatur langsam, aber unerbittlich auf dreißig Grad, auch wenn es noch immer Vormittag war. Er setzte sich in seinen Lieferwagen und fuhr auf die Straße zum zweiten Kalksteinbruch hinaus, dem fünf Kilometer weiter gelegenen Fila Hajdar.
Er wollte die Sprengung des Tages vorbereiten.
Um halb zwölf war es so weit. Das war der beste Zeitpunkt, weil dann der Schichtwechsel stattfand und die meisten Arbeiter im großen Speisesaal auf dem anderen Ende des Fabrikgeländes beim Mittagessen saßen.
Die sechzig Meter breite Piste war staubig und weiß vom Kalkstaub. Diese Breite war nötig, um Platz für alle Fahrzeuge zwischen Fabrikgelände und den beiden Steinbrüchen zu bieten. Die Lastfahrzeuge fuhren den ganzen Tag hin und her und transportierten Steine zu den riesigen Maschinen in der Fabrik, wo sie in Zement umgewandelt wurden. Wasserfahrzeuge waren ebenfalls ständig
unterwegs. Wenn die Piste nicht regelmäßig gewässert wurde, um den Staub zu binden, würde über Gotland eine deutlich sichtbare Staubwolke hängen.
Die Wagen fuhren jeden Tag, das ganze Jahr, von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends. Ihre einzige Pause legten sie zur täglichen Sprengstunde ein.
Auf beiden Seiten der Straße wuchsen niedrige Bäume. Tannen und Wacholderbüsche schienen in der ausgedörrten Umgebung um ihr Überleben zu kämpfen. Sie waren von einem weißen Staub bedeckt, als ob jemand den ganzen Wald mit Puderzucker bestreut hätte. Das Ganz machte einen gespenstischen, schicksalsschwangeren Eindruck.
Morgan Larsson winkte dem Fahrer eines voll beladenen Wagens zu, der gerade den Steinbruch verließ. Er empfand das vertraute Kribbeln im Bauch vor dem Sprengen, wenn vierzigtausend Tonnen Stein in einem einzigen Augenblick losgerissen wurden. Obwohl er schon so viele Sprengungen mitgemacht hatte, war er noch immer von dem Anblick fasziniert, wenn riesige Teile des Berges einstürzten und der gewaltige Krater sich noch weiter öffnete. Das ganze Schauspiel hatte etwas Unwiderrufliches. Der Berg gab nach und barst.
Morgan Larsson fuhr den Hang hinauf und hielt oberhalb des Steinbruchs in sicherer Entfernung zum Rand. Er öffnete die Wagentür und stieg aus. Ihm lief der Schweiß über den Rücken, aus den Achselhöhlen und über die Lenden. Er stillte seinen ärgsten Durst und leerte eine Flasche Wasser in einem einzigen Zug.
Die beiden Kollegen, die mit ihm die Sprengung überwachten, mussten in einigen Minuten eintreffen. Von seinem Standort aus konnte er sie nicht sehen, aber sie waren
über Funk in Kontakt. Alles wurde genau kontrolliert, damit sich während der Sprengung niemand im Steinbruch oder in dessen Nähe aufhielt. Wenn die
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