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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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zumutet, um sich dann irgendwann ihr Blech anzuhören. – Die Schule ein interessanter Bau, schätze von 1910.
     
    Andersch-Biographie.
    Sein Biograph bezeichnet die«Kirschen»als das beste Kriegs-und Antikriegsbuch nach 1945.
    Nachdenklich macht, was auf S. 359 steht:«Ich habe nie auch nur das kleinste Stipendium erhalten, nie einen dotierten Preis gekriegt. Keine Villa Massimo, kein Bundesverbandsportemonnaie, kein Harvard, keine Wahl in den PEN-Klub oder eine Akademie gelangten je in meine Reichweite.»- Ja. In die Schweizer Bergeinöde hat er sich zurückgezogen und beklagt sich, daß niemand ihn besucht.
    Hans Werner Richter erzählt, Andersch habe in den frühen Jahren in einem Kreis von Mitarbeitern und Freundinnen gesagt, er werde Thomas Mann nicht nur erreichen, sondern auch überflügeln, und das sei sein Ziel, berühmter zu werden als Thomas Mann.
    Hatte er nicht eine Gesichtsrose? – Seine Romane haben alle’ne linke Schlagseite. Daß intelligente Menschen nicht selbstkritisch sind? Man muß doch mal darüber nachdenken, was man da tut? Aber still, er hat Arno Schmidt gefördert, und das macht alles wieder gut.

Nartum Do 2. Mai 1991
     
    Sehr schlecht geschlafen, mußte mehrmals das Licht anmachen und mich aufsetzen und mich fragen, was das eigentlich soll.
    TV ist unerträglich. Gewerkschafter hetzen die Leute drüben auf.
     
    Straßeninterview:
    «Nun, liebe Frau, wann war’s denn besser, vor der Vereinigung oder jetzt?»
    Frau:«Vorher! Da war alles schön gemütlich.»
    Interviewer:«Dann wollen Sie also die Mauer wieder?»Frau:«Nee!»
    Also, das ist es ganz genau. Es war«gemütlicher». Dieses Volk ist wirklich sonderbar. Ich verstehe jetzt, was die Ausländer an uns nicht mögen. Da ist es kein Trost, daß wir an den Ausländern auch allerhand nicht mögen.
     
    Lit.:«Tod in Hamburg»von Richard J. Evans. Cholera-Sache. – Vielleicht doch das Cuxhaven-Tagebuch der Hälssens herausgeben? Das Original ist verschwunden, ich hab’ es damals – weil man es mir aus Mißtrauen nicht leihen wollte – auf Tonband gesprochen und dann abgetippt. Dadurch wurde es gerettet.
     
    «Spiegel»:«Von einem der über 250 Millionen Analphabeten Chinas kann schwerlich erwartet werden, daß er den Zusammenhang zwischen dem schwarzen Rauch aus dem Schlot der benachbarten Fabrik und den Atembeschwerden seiner Kinder begreift.»
    Setzt also Analphabet = Dummkopf. Verbreiteter Irrtum. Dann müßten in Europa jahrhundertelang nur Dummköpfe gelebt haben!
     
    Abends in Lilienthal, Lesung. Gut besucht, aber nur wenig signiert. Ich erbat einen Schnaps, der mir nicht geholt wurde, obwohl Restaurant nebenan.
    Ich las M/B und«Sirius». Letzterer hat enormen Erfolg. Die Leute gucken gerne Bilder an.

Nartum Fr 3. Mai 1991
     
    T: In Frankreich. Noch geht’s mir gut, ich wohne in großem Hotel, verkehre mit besonders gekleideten Würdenträgern, in Grün und Gold schreiten sie dahin. Ein schönes Mädchen winkt mir zu.
     
    Quickborn-Lesung.

Timmendorf Sa 4. Mai 1991
     
    T: Der Hauswirt (Rostock) will uns kündigen, sucht allerhand Argumente zusammen. Auf dem Schriftstück ist sogar was auf Japanisch geschrieben. Meine Mutter liest es uns vor. – Ich will nun mein Leben ordentlich beginnen und werde Druckereilehrling. Beschließe, auch die Handelsschule regelmäßig zu besuchen.
     
    Gestern las ich in Quickborn. Saal war nur halb gefüllt, da ich vor zwei Jahren schon mal da war. Ein Beutelfan kam und stellte sich vor:«Ich bin der Mann mit der Plastiktasche!»Sein T/W-Exemplar war sehenswert. Ich:«Das müßte man ins Museum stellen.»Er:«Nee, das geb’ ich nicht her.»Seine Schwiegermutter habe vorm Urlaub zu ihm gesagt (1977):«Das Buch müßt ihr mitnehmen. Das ist das richtige.»Er habe zuerst nicht rangewollt, aber dann doch, und seitdem …
     
    2007: Jetzt wollen die Italiener T/W übersetzen. Am Titel scheitern sie schon. Was ein«Schlusuhr»ist, will der Übersetzer von mir wissen.
     
    Seine Frau sprach über meinen Kopf hinweg zu einer anderen Frau, die, wie sie sagte, 13 Bücher von mir gelesen habe. Nein, am wenigsten habe ihr«Schöne Aussicht»gefallen, das sei so langatmig. Die andere:«Nee, das kann ich nicht sagen, das ist doch so wunderbar gemütlich.»
    So flogen die Unterhaltspfeile immer über mir hin und her.
    Zu Herzen gehende Vorkommnisse.
    Nachtfahrt nach Hause durch Regen. Die Hand am Radio-Suchknopf: Leider vergeblich. War früh zu Hause.
     
    Bohling macht heute den Zaun.

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