Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
unternimmt, wirft kein gutes Licht auf die hygienischen Ziele der Arbeitervertreter.
Fahren wir fort mit dem Positiven. Nähern wir uns in Demut dem TV. Zunächst ist festzustellen, daß mit der Anhäufung von Programmen der Fernseh-Gucker wieder zum Souverän geworden ist. War er in grauer Vorzeit auf zunächst ein einziges, dann auf zwei Programme angewiesen, wenn er seinen Sinnen mal was Gutes tun wollte, so kann er jetzt mit Hilfe des Fernbedieners eine Momentan-Collage herstellen, die in der Regel den einzelnen Programmen weit überlegen ist und darüber hinaus die kreativen Fähigkeiten trainiert … (Beisp.).
Um weiterhin beim Positiven zu bleiben. Ich habe jene Dame, die auf einer Party, das Lachshäppchen in der Hand, auf das Fernsehen schimpfte, gezwungen, sich die Programmzeitschrift einmal genauer anzusehen. Mit Pauschalitäten ist uns nicht geholfen: Jeder Fernsehtag, der über das Land geht, beschert uns auch Stunden erstklassiger Unterhaltung und speziellster Bildung (Beisp.).
Radio: Da bleibt dann immer noch der Griff zur Kurzwelle, dies geheimnisvolle Verfallzirpen. Früher wurden da noch Zahlenkolonnen von einer Frau aufgesagt.
Lit.: Carossa-Briefe. Nur fürs«Echolot»interessant.
Wie diese Leute damals einherschritten.
Sein rumänisches Tagebuch ist immer noch lesenswert. Thomas Mann hat ihn geschätzt, obwohl er doch«innerer Emigrant»war.
T (mittags): Ich spielte Klavier vor, mit Handschuhen an, das Klavier war aus gelbem Plastik und hatte nur fünf Töne, und auf der«Tastatur»unter meinen behandschuhten Fingern lag ein zusammengedrücktes Päckchen Zigaretten. Und darauf bzw. so sollte ich spielen! Und man erwartete Großes.
«Kempowski? Liest man den überhaupt noch?»Ein Lehrer in Kiel zu einer Schülerin.
Der Verleger Helmut Kindler nennt im FAZ-Fragebogen als seinen Lieblingslyriker Brecht. – Sonntags liest er Goethe.
Nartum So 28. April 1991
Lese Biographie Andersch. Wie umsichtig der seine Karriere geplant hat. – Ich rutsch’ immer so durch. – Hab’ dafür aber meine Finanzen in Ordnung und war nicht in der Kommunistischen Partei.
Hildegard ärgert sich darüber, daß er Pfeife raucht. Ist ja auch grotesk, dieser Anblick der in sich selbst versunkenen Selbstgenießer.
Nartum Mo 29. April 1991
I948: Gründung der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD)
TV-Gespräch mit Frau Armin in Bremen. 45 Minuten! Ich mußte so nötig. Schließlich habe ich einfach gesagt, mitten ins Gespräch hinein:«Entschuldigen Sie bitte...»
2007: Das habe Fernsehgeschichte gemacht. Man habe diese Stelle aufbewahrt, das hat sie mir erst neulich wieder erzählt.
Man soll eben vor einer TV-Sendung keinen Kaffee trinken. Mit Milch schon gar nicht.
Delmenhorst Di 30. April 1991
Jahrestag der Pionierorganisation der Sozialistischen Republik Rumänien
Lesung, angenehmes Publikum. Wie ich mit dem«andern Platt»zurechtgekommen sei, wollte einer wissen, als Mecklenburger nun in Niedersachsen.
Mai 1991
Nartum Mi 1. Mai 1991, kalt!
Der Mai, der Mai
bringt mancherlei.
Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen
Tagebuch – unlustig. Mich bedrückt der Vortrag für die Medientage. Vielleicht gelingt es dem Konzern, mich davon zu befreien.
Habe noch immer die Grippe, schleichendes Fieber nun schon seit Augsburg. Fast jeden Tag eine Lesung, vorgestern eine Vorbesprechung der gestrigen TV-Sache, ¾ Stunden, ziemlich idiotisch. In Oldenburg vorgestern zu meinen Glanz-Schlußdarbietungen (Germanistik) kamen zwölf Interessenten. Kümmerlich und niederdrückend.
Im TV jeden Tag Horrormeldungen aus Rußland. Von de Maizière die Mitteilung, daß die Tür zur Einheit nur«Tage»offengestanden hätte. – Allgemeine Verbitterung darüber, daß nun Suppe ausgelöffelt werden muß.
Schlechte Haltung der Leute drüben. Und hier Desinteresse. Die Hauptstadt-Debatte ist mir absolut unverständlich. Natürlich muß es Berlin sein, was denn sonst? Außerdem stehen wir im Wort, das hat nämlich vorher mal irgend jemand versprochen.
Mit«Echolot»bin ich nun zum 28. Januar vorgedrungen, habe auch schon Fotos bereitgestellt. M/B muß warten.
Lieschen ist läufig. Wir hatten sie gestern mit in Delmenhorst, wo sie uns in ihrer Hitze weglief, konnten sie gerade noch erwischen.
Eine Klavierschülerin spielte vorher ein Schülerstück, was Hildegard rührend fand. Ich kann es nicht begreifen, daß man Menschen jahrelang Klavierunterricht
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