Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
willkommen», bin ich konzentrierter, wenn es darum geht, theoretische Aussagen zu machen.
Jetzt sitzen wir in einem Stau vor HH, und in mir breitet sich Unruhe aus wegen des an sich unwichtigen Termins, den ich nun nicht halten kann. Die mühsam gezimmerte Gleichgewichtsplattform, die wie ein Sarkophag meinen chaotischen Lebensgrund verschlossen hält, wird sofort instabil. Und all das Elend von damals zwingt mich in einen Treppen hinaufstürmenden schülerhaften Eifer, der sich nicht dämpfen läßt. An sich ja kein Wunder, wenn ich mir vor Augen halte, daß es mir gelang, damals, die taumelnde Ariane doch noch abzufangen und ein ganzes System von Satelliten auszusetzen.
In HH ging ich zu Radio Klassik und wurde dort von einem netten Mann interviewt, was leider darauf hinauslief, daß ich geschlagene 1½ Stunden mein Leben blumig darbot. All die alten Geschichten... Zum Schluß kam die Medientante, die ließ sich mit mir knipsen. Als ich ihr die«Hundstage»-Tonbänder anbot zur Sendung, verstand sie mich nicht. Sie machte ein Gesicht wie eine leere Kiste, aus der Holzwolle quillt.
Dann Teppiche angesehen und wunderbar im Chilehaus gegessen, allerlei Vorspeisen, ich konnte gar nicht aufhören. Danach leider noch in ein Auktionshaus, gottlob nichts gefunden.
Auf der Hinfahrt ein Stau, auf der Rückfahrt ein Auto 100 m vor uns, das ins Schleudern geriet, vermutlich Reifen geplatzt. Es kam an der Leitplanke zum Stehen, eine ausländisch-türkische Urmutter stieg vorne aus mit Kind auf dem Arm, Türkenvater hinten Kinder rausgeholt, gottlob fuhr niemand auf. Ein Laster hätte sie zermalmt.
Eine Iserlohn-Dose gesehen, 2800,-, widerstanden. So viel Geld für eine alte Blechbüchse zu bezahlen, ist Sünde. Obwohl... Herr Tamm in Hamburg soll 500 Stück haben. – Die Inschrift auf einer meiner Dosen lautet:
REITEND IAGEND UND VIEL FANGEN
WAN DAS WILD AUCH NOCH SCHNELL
IST MIER DOCH NOCH KEINS ENTGANGEN
WAS NUR VOR MIR IST ICH FÆLL.
Für Jagden jeder Art fehlt mir das Verständnis, außer bei Fliegen, die allerdings werden von mir rücksichtslos verfolgt. – In Rostock habe ich mal Elchbraten gegessen, das war 1938, schmeckte wie Rindfleisch.
Von Maydell war da, kopierte Quellen. Stammt irgendwie aus«guter Familie», und das muß er durch fragwürdiges Benehmen andeuten.
Nachmittags kam ein Prof. Rothe für eine Stunde. Angenehmes Gespräch.
Zahnschmerzen, lang entbehrt, und immer noch Grippe. Richtig krank war ich eigentlich noch nie.
2007: Das wurde ich dann erst im Oktober 2006.
Nartum Mi 8. Mai 1991
Jahrestag der Befreiung vom Faschismus
Jahrestag der Pionierorganisation der Mongolischen
Volksrepublik
Weltrotkreuztag
46 Jahre Kriegsende.
Simone ist in Marbach im Archiv. Der Handschriftenmann gibt nur zögernd Sachen heraus. Wir sollten das man lassen mit dem«Echolot», hat er gesagt.
2007: Er hat hier das Archiv bewertet für Berlin, und Hildegard hat ihm zum Abschied noch zwei dicke Butterstullen gegeben. Danach erfuhren wir, daß er nicht sehr freundlich war.
Nartum Do 9. Mai 1991
Nationalfeiertag der ČSSR
T: Von Mutter, sehr lang. Zunächst liegt sie im Pflegeheim, alles grau, ein Brief wird unter Wasser gefunden, Robert. Dann hat sie Ausgang. Habe ich denn Zeit für sie? Eine neue TV-Sprecherin muß begrüßt werden – ich möchte mich mit ihr verabreden. Zu Hause wartet Mutter, ich denke: Sie wird bemerken, daß wir ihre Sachen weggeschafft, ihre Bücher zu unseren gestellt haben.
Gestern am«Echolot»gearbeitet, ich bin nun durch mit dem Januar 1945. Stalingrad ist«erledigt». Fange wieder von vorn an: das alte Lied, der zweite Durchgang.
2007: «Alles umsonst»: Und noch einmal der Januar’45.
Den Medienvortrag habe ich noch immer nicht vom Hals.
Hildegard feierte eine Teppich-Orgie. Sie schafft Massen heran, ist letztlich dann aber doch vernünftig. In HH sahen wir einen riesigen Teppich für 56 000,-. Das ist nicht unser Stil.
Professor Patzig in Göttingen hat sich den«Sirius»von Arnold gepumpt!
Simone ist noch immer in Marbach. Inzwischen scheint sie sich dort durchgesetzt zu haben. Ich gab ihr ja auch ein paar Manuskriptseiten mit, als Geschenk für den Herrn dort.
Ein Professor kam aus Erfurt mit seiner Frau. Er Gehirnchirurg, sie Zahnärztin, jetzt ohne Job. – Sie meckerte über die armen Rentner, erzählte dann aber rührend, wie schlagartig besser die zahnärztliche Versorgung geworden sei. Früher
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