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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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auf eine Brücke ein Jahr warten müssen, heute gibt’s die in 14 Tagen.
     
    Die Kurden, Bangladesch, Armenien, Jugoslawien. Dazu die Cholera in Südamerika. Wann bricht die Pest aus? – Jugendliche Banden im Osten. Die schlagen alles kurz und klein. Bei einem der letzten großen Fußballspiele haben die Macher ein Unterhaltungsprogramm nebenher geboten. Die Fans haben ihnen was gehustet. Die merken doch, daß man ihnen ein Lätzchen umbinden will, mit Volkstanz und solchen Mätzchen.
     
    7 Uhr
    Im Radio brüllender Orgel-Mulm. Draußen zwitschern zwei Vögel. In den Nachrichten Tarifmitteilungen. IG Medien verlangen 11 %!
     
    Bin immer noch krank, Hustenreiz (besonders nachts), Bronchienpfeifen, fiebrig.
    Koestler,«Als Zeuge der Zeit». Die Zeitgenossen schimpfen auf ihn, immer besoffen, hat sich geprügelt. Hat den Kommunismus verraten, das ist ja auch unerhört.
     
    Musik satt. Schon seit Wochen unfähig, Musik zu hören. Die Wohllaute angesichts der Welt-Troubles.
     
    Im TV die blödsinnigen Talk-Runden. Es geht um die DDR, deren Einwohner sich nun dauernd auf den Schlips getreten fühlen. Ich denke, es ist der klassische (gefährliche!) Fall von Minderwertigkeitsgefühl. Man müßte in einem psychiatrischen Lehrbuch nachsehen, was da zu tun ist. Kann man ein ganzes Volk therapieren? – Die Alliierten haben es nach’45 mit uns versucht, und irgendwie hat’s geklappt.
     
    Den ganzen Tag verbummelt, Hildegard war auf einer Konfirmation, kam recht erledigt wieder und war abends ganz konfus.

Nartum Fr 10. Mai 1991, schöner Tag
     
    Tag des freien Buches
    Die verlangsamten Bewegungen des Saddam Hussein, der immer noch mit seinen Getreuen um den Tisch herumsitzt, erinnern mich an Stalin, der bewegte sich auch in Zeitlupe. Die Miene des Weisen, wie sie lächerlich wird, wenn’s schiefgeht. Die«Mutter aller Schlachten»ist jedenfalls baden gegangen.
     
    Simone kam. Ich hatte mir vorher überlegt, daß ich sie mit den Worten empfangen würde:«Du bist sichtlich reifer geworden.»Das hatte nicht viel Erfolg. – Sie hatte in Marbach ziemliche Schwierigkeiten, das scheint ja ein doller Verein zu sein. Am Telefon, vorher, alles zugesagt, und dann: Denkste. Das wird mir eine Lehre sein. Außerdem: Und mein ganzes Archiv dort unten zu deponieren – unpraktischer geht’s ja überhaupt nicht. Wegen jeder Kleinigkeit sechs Stunden mit dem Zug fahren?
    Die erste Ausbeute ist aber doch sehr beachtlich. Einige Hans-Grimm-Sachen, die unentbehrlich sind, brachte sie immerhin mit.
     
    Die Mediensache habe ich immer noch nicht vom Hals.
     
    Teppichorgie beendet. Nun liegen in der Bibliothek schöne Brücken.
     
    43er-Fotos für das«Echolot»herausgesucht, nicht sehr reichhaltig. Erwäge spezielle Anzeigen.
    Großartige Post, der gesamte Nachlaß eines Kriegsreporters. Bilder von Katyn.
     
    TV: Film über die katholische Kirche in Albanien, wie sie unterdrückt wurde. Von unseren Grünen kein Wort dazu. Habe wieder mit Klavierüben angefangen. Die«Inventionen». 1940 schon gespielt.
    In der Post eine Kritik zu«Sirius», in der der Autor schreibt, er hätte bei Seite 120 Schluß machen wollen: Das Buch eines Schriftstellers, dem nichts mehr einfällt. Und dann habe er zufällig die Seite vierhundertsoundsoviel aufgeschlagen, und da sei er doch derartig gepackt gewesen, daß er das Buch doch …, und es sei wundervoll.
    Von was für Zufällen unsereiner abhängig ist!
    Und: daß mir nichts mehr einfiele! Du lieber Himmel!
    Im Radio sind sie jetzt auch verrückt geworden. Qietschender Jazz anstelle erbaulicher abendländischer Musik, von der ich im Augenblick allerdings auch die Nase voll habe.«Übersättigung»ist wohl das rechte Wort. Meine Musikzellen im Gehirn sind gefüllt wie volle Bienenwaben, das leckt schon raus.
    In Halle haben Sozis den Kanzler mit Eiern beworfen. So was hatten wir auch noch nicht. Er verlangt, sie sollen sich entschuldigen. Klopf-klopf! -«Herein!»-«Wir möchten uns entschuldigen. »
    Was geht’s mich an? Wahr ist, daß die Gewerkschaften durch ihr Trübe-Suppe-Kochen – und die SPD sowieso: 10% mehr Lohn zu fordern! in diesen Zeiten! – mir an mein Erspartes gehen. Im Augenblick sind es nur 2,6% Wertverlust.
     
    Kohl ging auf den Eierschmeißer los wie ein Berserker. Als ob er ihn erwürgen wollte.
     
    2007: Stellte sich heraus, daß es ein westdeutscher SPD-JÜNGLING war. Er wurde ausgeschlossen, aber Bremen nahm ihn wieder auf.
     
    Im Augenblick wandelt sich der Charakter

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