Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Sozialistischer-Realismus-Bild, mit Rötel gemalt. Hasen-Studien. Weiß nicht, was ich damit soll, aber ganz schön. Unsere Wessi-Großkopfeten geben sich mit Hasen-Studien nicht ab, außer Beuys, der ihn gleich in Gold gegossen hat.
     
    Ein Jurist zur Wiedervereinigung:
    Ich bin gleich nach der Wende 50 000 km durch die DDR gefahren, das hat mich unwahrscheinlich beeindruckt. Ich hatte gar nicht die Absicht, in den Osten zu gehen, nun bin ich schon fast zwei Jahre hier. Ich sag’ den Leuten hier knallhart Bescheid, das wollen die. So und so isses. Punkt. Die merken gleich: Der bleibt hier. Was die nicht leiden können, sind die Springer, die freitags wieder nach drüben fahren.

Quedlinburg – Wernigerode – Nartum Fr 17. Mai 1991
     
    Weltfernmeldetag
    Nach Quedlinburg, dort schöne Stunden, Stadt, Schloß, Klopstock-Haus. Herrlich mildes Wetter, Kaffee getrunken, dann nach Wernigerode, wo nette Lesung mit freundlichen Menschen. Buchhändlerin, das Haus voll schönster Bilder und Antiquitäten.
     
    In der Nacht noch nach Hause! Schüsseler ließ es sich nicht nehmen, in einem Rutsch bis Nartum zu fahren. Ich guckte einigermaßen ängstlich auf die Tachonadel.
    Um Mitternacht stand ich vor der Tür.
    Empfand das Haus als unglaublich luxuriös.
     
    Ich fischte heute Wiedervereinigungsplankton:
    Ich habe nie an eine Wiedervereinigung zu meinen Lebzeiten geglaubt. Wir werden ein Verhältnis erreichen wie mit Österreich, aber doch keine Wiedervereinigung!
    Im Radio neulich ein Mensch, der auf«Platt»eine Orgel erklärte. Technisch angewendete, leider abgetane, eine so schöne Gebrauchssprache für unsere Landsleute.

Nartum Sa 18. Mai 1991
     
    Internationaler Museumstag
    Heute umständlich über Bremen nach Oldenburg und zurück ebenfalls, wegen gesperrter Autobahn. Zeitraubend, anstrengend. Ich hörte den Vortrag über Pfitzner (II. Teil), der politisch sein Lebtag nicht so recht wußte, wo’s langgeht. Die Nazis mochten ihn jedenfalls nicht. Werde mir sein Streichquartett besorgen. Seine vom Schlaganfall beeinträchtigte Sprache. Der Wiener Reporter unterbrach ihn, er redete ihn mit«Meister»an. Das Streichquartett hat Schönberg für großes Orchester umgeschrieben.
    Transpositionen sind immer interessant, leider kriegt man sie nur selten zu hören. Irgendwas gehört sich daran nicht.

Nartum So 19. Mai 1991
     
    I938: Artur Becker von Faschisten ermordet
Jahrestag der Pionierorganisation der UdSSR,
«Wladimir Iljitsch Lenin»
    KF Geburtstag.
     
    Nun hat sich die CDU wieder ein Ding geleistet: Anstatt sofort Berlin als Hauptstadt zu inthronisieren, leitartikeln sie:«Aufgabenteilung zwischen Berlin und Bonn».
     
    Arbeit am«Echolot», Fotos einbauen. Anregend.
    Sorge, daß mir wesentliche Zeitzeugen nicht über den Weg laufen. Mit jedem Prominenten, den ich finde, schließe ich eine Lücke, deren Vorhandensein ich vorher nicht bemerkt hatte.
    Schmidt und Co. vom WDR scheinen den«Laubenpieper»machen zu wollen.
     
    Das Grässe-Bild aus Tasmanien kam, Glücksgefühle durchwellten mich, glucksten in mir auf, als ich es betrachtete. Der blaue Fisch ist mein Aquariumsfisch, aber warum hat er ihn«stinkend»tot gemalt? Till Eulenspiegel, den ich als Narr nehme, als mich, amüsiert sich darüber. Er weiß, daß das Eigentliche ganz woanders existiert: die kollernden Grotesk-Gnome sind es. St. Marien hat sich abgewandt, aber nimmt wahr. Schade, daß Hildegard aus Gründen, die ich kapiere, gegen dieses Bild ist. Ich habe es nun in meinem Schlafzimmer und werde es dort verbergen.
    Grässe saß mit mir in Bautzen, hatte eine unerklärliche Freundschaft zu mir gefaßt, die sich darin äußerte, daß er mir manchmal sonntags eine kleine Zeichnung schenkte. Jetzt sitzt er in Neuseeland. Ob er da recht froh wird?
     
    Carla Damiano aus Idaho ist hier. Wir sprachen lange über den wesentlichen Unterschied von«Form und Inhalt». Wer das nicht kapiert hat, versteht überhaupt nichts. – Hildegard nahm das Gespräch auf. Ob’s je einer anhört?
     
    KF heute Geburtstag. Ein stiller, einsamer Freund. Weit weg ist er.
     
    Ein 40-Seiten-Ms. von Pröbstle über«Sirius». Er schreibt ein eigenes Tagebuch an seinen Buchnotizen entlang. Abgesehen davon, daß es mir schmeichelt, Menschen anzuregen, ist so etwas sehr spannend und unterhaltend, also gewinnbringend zu lesen. Manche Übereinstimmungen sind ulkig. – Nahmmacher und Haase haben den«Sirius»mit einigen Bedenken angefangen: Tagebuch, was soll denn das? Aber

Weitere Kostenlose Bücher