Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
gigantisch.
Die andere Biographie, ein Berliner Mädchen im Krieg. Sehr schön und stimmungsvoll.
Einsiedel gestern im TV. Jetzt trägt er einen Bart. In Rußland hat er jungen Soldaten erzählt, daß er 38 Gegner abgeschossen hat. Die jungen Leute waren beeindruckt.
Auch Bilder vom Nationalkomitee, deutsche Offiziere, die die«Internationale»singen. – Mit der SU zu gehen gegen Deutschland, das geht nicht. Das Anstößige war, daß es sich um zwei fast identische Diktaturen handelte. Wenn er über England abgeschossen worden wäre und sich dort hätte einspannen lassen? Nein, wäre auch nicht gegangen. Das ist wider die Natur. Ich habe sogar mit Deserteuren meine Schwierigkeiten. Daß sie weglaufen – meinetwegen. Aber daß man sie dafür lobt? Oder daß sie gelobt werden wollen? Der Grund, weshalb ich ihnen mißtraue, liegt im Vorteildenken. Ich nehme ihnen nicht ab, daß sie es aus politischen Gründen getan haben. Widerstand? Da hätten sie den nächstbesten Offizier abknallen können. Dazu braucht man nicht die Seiten zu wechseln. Oder? Ich weiß es nicht. Möglicherweise kann diese Frage nie beantwortet werden.
Ich denke gerade daran, daß mich nach Erscheinen von«Haben Sie Hitler gesehen?»ein Reporter zur Rede stellte. Er hieß Hildebrandt und trug Turnschuhe. Wie ich dazu käme, von«Adolf»zu sprechen. Ob ich ihn denn noch so verehre? – Dabei hatte ich ja gar nicht von«Adolf»gesprochen, ein Statement-Mensch hatte es getan, und zwar nur ein einziger. Das war 1971, vor 20 Jahren. So was tragen die noch mit sich herum.
In dem Tschirch-Tagebuch, das ich gestern bekam, stehen viele Einzelheiten, die ich für T/W gut hätte brauchen können. Der langsam gesprochene Wehrmachtbericht«zum Mitschreiben»(im Radio) beispielsweise.
«Middle-aged fuddy-duddy»bin ich nicht!
Nartum Sa 13. Juli 1991, kühl
Hatte mit dem Magen zu tun.
Morgens der Mann aus Rostock mit einer neuen Fuhre Bierflaschen und anderem. Lästig.
Die angekündigte Amerikanerin fuhr nach Utrecht statt nach Bremen, kam also nicht, und wir saßen und warteten.
In einer mecklenburgischen Zeitung steht, daß sie den Petri-Kirchturm wieder aufbauen wollen.
Der Rostocker sagte, für die kleinen Rentner sei es jetzt schlimm, aber es sei für sie auch früher schlimm gewesen, jetzt koste der Bohnenkaffee weniger, dafür sei die Miete teurer.
Nartum So 14. Juli 1991, kühl
1789 Sturm auf die Bastille
I889 Gründung der II. Internationale
Letzte Briefe aus dem Feld eingegeben ins«Echolot». Die Sprache war der Situation in der Regel nicht gewachsen. Einfache Leute konnten es meistens besser:«Liebe Cläre, wenn Du einen andern findest, wünsche ich Dir alles Gute...!»
Die Bürger bergen ihre Gefühle und Ansichten zum Teil unter enormem Schwulst, fast wie unter Drogen erzeugt.
Steht uns nicht zu, darüber zu urteilen.
Carla rief aus Idaho an, daß Leo-Baeck-Leute Schwierigkeiten machen. Typische Archivsituation. Die Leute sitzen auf ihren Beständen. Abgesehen von der Endlosigkeit des Antichambrierens irgendwelche Ängste, etwas Verbotenes zu tun? Totenruhe? Datenschutz?
Nartum Mo 15. Juli 1991
Gorbatschow hat in London gesagt, wenn der Westen nicht hilft, wird es Aufstände geben in der SU.
Kesting hat in seinem Nachruf auf Axel Eggebrecht gesagt, der habe das Herz auf dem rechten Fleck gehabt, nämlich links. Das ist vielleicht kryptisch! Es sagt mehr über Kesting aus als über Eggebrecht.
Der Buchhändler Elsbeck in Rotenburg heute begrüßte mich, indem er meinen Ellbogen mit zwei Fingern faßte. Er ist der Mann, der sich«immer so durchmogelte»in der Schule. Habe mir in Rotenburg Prospekte von Amtrak geholt, Zugreisen in den USA. Werde wegen Leo Baeck wohl doch nach N.Y. reisen müssen. Preise stehen leider nicht dabei.
Die Slowenen weigern sich, ihre Waffen abzugeben. Das würde ich auch tun. Die gegenseitigen Blutbäder. Und das Schlußblutbad an den Deutschen wird gar nicht erwähnt.
«Spiegel»: 1 Mio. Bundesbürger obdachlos? Kann das stimmen?
Es sieht so aus, als ob die Entwicklung hier einem allgemeinen Crash entgegentreibt. Aber das tut sie schon lange. Und einen größeren Crash als 1944/45 kann es eigentlich nicht geben, und den haben wir überstanden. Und das Gefängnis?
Der Rostocker gestern, dessen 11jährige Tochter nicht wußte, was die Marienkirche ist, sagte, er sei jetzt arbeitslos, mache also einen bezahlten Urlaub, weil es ja keine
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