Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
gewußt. Es gibt einen interessanten Film über sein Leben, wie er es ausgepreßt hat! Er hat auch farbige Übersichten gemacht und an die Wand geklebt, wie Böll es getan hat. – Nachts ist er in seinem Fuchspelz gern um den Hamburger Hauptbahnhof herumgestrichen. Aber an Aids ist er nicht gestorben.
Die mißglückte Verabschiedung wirkte noch nach. Außerdem Hitze. Außer der Comic-Sache, die gut von der Hand ging, konnte ich nicht arbeiten.
Nartum Mi 10. Juli 1991, heiß
In der ZEIT ist ein rührseliges Plädoyer abgedruckt, ganzseitig, über einen jungen Professor, den sie nun«abwickeln». Er hat fünf- oder siebenmal der Stasi berichtet (daß er das nicht einmal genau weiß!), was er«leider erst nach seiner Ernennung zum Professor (freiwillig) offenbarte»(der Rektor der Humboldt-Universität).
Der Autor des Plädoyers heißt Kostede und scheint ein rechter Wirrkopf zu sein. Er hat die Klo-Inschriften der Universität studiert:«Jagt ihn weg, den roten Dreck!», eine«Schmiererei», die er Neonazis anlastet. Also, ich bin derselben Meinung wie jener Unbekannte und bin kein Nazi. Noch 1985 war Brie – der Mann, um den es geht – der Meinung, daß es zur DDR keine grundsätzliche Alternative gebe! Als Professor! – Diejenigen, die«gestern schwiegen»in der DDR, bezeichnet er als Opportunisten, damit tut er das gleiche, was er den Westdeutschen vorwirft, er urteilt von sicherem Port. Offenbar weiß er nicht, daß schon das Schweigen gefährlich war. – Zum Schluß sagt er, Brie sei kein Märtyrer,«die wahren Märtyrer der Meinungsfreiheit waren andere. Die wahren Geisteshelden in Ostdeutschland … sind heute Kraftwagenfahrer, Krankenpflegerinnen. Man hat sie wegen Regimekritik … von den Universitäten gejagt. Wer von sich überzeugt ist, daß er zu diesen großen Menschen zählt, der werfe, wenn es denn sein muß, den ersten Stein.»
Die ZEIT hat sichtlich an Niveau verloren! Ob Herr Brie sich damals und heute wohl um einen einzigen dieser«großen Menschen»gekümmert hat? Hat Herr Kostede einen von ihnen interviewt?
Und: Wie anders hätte K. wohl geschrieben, wenn Brie in der Nazi-Zeit gelebt hätte und Parteimitglied gewesen wäre und fünf bis sieben Menschen angezeigt hätte!
Heute früh ein Fotograf, der mich sehr nervte.
«Stellen Sie sich vor, sie schleppten sich durch eine Wüste und tränken jetzt ein Glas klares, kühles Wasser...»Ich sollte also grinsen.
«Sie sind so ernst, warum lachen Sie nicht?»-«Ich habe ja keinen Grund zum Lachen.»
Dann wollte er, daß ich Zettelkästen auf den Tisch stellte und darin grabbele. Ich:«Seit Jahren arbeite ich schon nicht mehr mit Zetteln!»und habe mich geweigert. – Die üblichen Indiskretionen: Wer hat das Bild gemalt, was sind das für Hunde usw.
Neulich hätte er eine interessante Arbeit gehabt, die Hautkrebsaktion, und er wollte mir davon erzählen. – Das konnte gerade noch gestoppt werden.
Über Mittag war ich bei Radio Bremen zu Gast, einen M/B-Text sprechen für SFB. Hinterher meinte der Mann vom Ton:«Daß Sie sich nicht schämen, so einen Hetzkram zu schreiben. »- Sonderbar. Ich kann doch soviel Quatsch schreiben, wie ich will? Das geht ihn doch gar nichts an?
Viel Verkehr auf der Autobahn, rasender Verkehr, ich machte, daß ich nach Hause kam.
Gestern nacht habe ich die Autographen sortiert, die sich hier angehäuft haben. Es sind interessante Sachen darunter. Damals, nach der«Stern»-Affäre, Sympathieadressen.
Einsiedel im TV.
Und Jelzin, wie er von einem Popen gesegnet wird. Verrückt. So was gibt es ja nicht einmal bei uns.
Nartum Do 11. Juli 1991, heiß
Nationalfeiertag der Mongolischen Volksrepublik
Die Bertelsmann-Leute wollen, daß ich in Rostock ein literarisches Zentrum eröffne. Das hätte mir noch gefehlt! Sie haben schon überall herumtelefoniert … (Das auch noch!)
Heute kamen zwei Biographien, eine von Egon Tschirch, Rostock 1939-1945, sehr interessant, ich las das Tagebuch im Garten auf einen Rutsch. Manchmal leider auf Wirkung hin geschrieben, aber wenn’s ihm ernst war, ganz knapp und sachlich. 1943 fehlt, und den Russeneinmarsch hat er ausgelassen, wohl aus Angst.
Tschirch 1889-1948, Rostock:
Sausender Schneesturm, dunkler Himmel, Schneeschanzen – Warschau gefallen! – Noch stockt einem der Atem. – Atemberaubend ist dieser russische Einbruch, Vormarsch, Aufbruch, dieser Sturm aus Ostland, diese Lawine, die da alles zerschmetternd aufrollt, unaufhaltsam,
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