Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Wiedervereinigung:«Ich habe es nicht zu glauben gewagt.»
Der Nachbar hält 30 Enten ohne Wasser, könnte er ihnen nicht eine kleine«Pütt»graben?
Busoni: Streichquartett. Langweilig?
Pfitzner: Streichquartett. Ein Teil großartig. Schmilgun tat gut daran, den Rest in seiner Sendung wegzulassen.
Nartum Fr 19. Juli 1991
Der Bürgermeister von Fürstenberg hat genehmigt, daß auf dem Gelände des KZ Ravensbrück ein Supermarkt errichtet wird. Na, das ist natürlich was! Der Zentralrat der Juden hat protestiert, aber er tut es erst jetzt, wo der Supermarkt bereits«errichtet»ist. – Zuerst hörte sich das so an, als ob das gesamte Gelände habe herhalten müssen für Cornflakes und Damenstrümpfe. Nun sah man Bilder, daß dies gar nicht der Fall ist. Die Gedenkstätte bleibt davon unberührt. Passanten wurden befragt, was sie davon halten. Eine junge Frau:«Das interessiert mich nicht. Wir haben jetzt andere Sorgen.»
M/B: Vormittags ging ich die ersten sechs Kapitel durch. Es sieht ganz gut aus.
Mittags kam eine junge hübsche Amerikanerin aus Provo. Ich fotografierte sie. Aber das nützt ja auch nichts.
Dann zum Kaffee Schnakenwinkel, der die Ausstellungsfotos zurückbrachte. Er nahm die Amerikanerin mit zum Bahnhof.
Gegen Mittag fuhren Hildegard und Schwester nach Berlin. Sie wollen sich u. a. Potsdam ansehen. Es gibt Leute, die sagen: Kenn’ ich schon. Die Sozialisten haben dort sehr gehaust. Hitler vor Hindenburg in der Garnisonkirche – daß sie diese Erinnerung auslöschen wollten, kann ich verstehen. Das war einer der vielen Anfänge vom Ende.
Nartum Sa 20. Juli 1991
Schreckliches Datum.
Ohne den 20. Juli stünden die Deutschen arm und erbärmlich da, hat Weizsäcker gesagt.«Erbärmlich», was für ein altmodisches und unpassendes Wort, wie aus einer Bach-Kantate entnommen.
Saddam Husseins weittragendes Geschütz sei 52 Meter lang und habe ein Kaliber von 300 mm, es sei schon getestet worden. – Im Krieg die großen Eisenbahngeschütze, die mußten nach jedem einzelnen Schuß erst mal repariert werden. – Ich weiß nicht, Bomben sind in dieser Beziehung doch viel praktischer? Wir haben’s erfahren!
Die Firma Dralle,«Dr. Dralle», ist eingegangen. Ist das nicht eine notierenswerte Nachricht?
Dr. Dralles Birkenhaarwasser.
Wer den Untergang der Menschheit verfilmen wollte, der müßte dem Film das Geräusch von Rasenmähern unterlegen.
Tausende von Rumänen warten an Oder und Neiße, um schwarz über die Grenze …
Nartum Mo 22. Juli 1991
Nationalfeiertag der Volksrepublik Polen
Wunderbare Tage. Früh gehe ich mit den Hunden zwei Gartenrunden, es ist unbeschreiblich.
Die beiden Frauen sind seit einigen Tagen in Potsdam. Ich habe bisher nichts von ihnen gehört, also wird es ihnen wohl gefallen. Ordentlich essen gehen, mal hier, mal da, das ist doch was Wunderbares.
Simone leistet mir Gesellschaft, unaufdringlich, aufmerksam.
M/B ist nun fast fertig. Ich bin schon beim zweiten Durchgang. Daß der Verlag sich ausgerechnet dieses Buch als Weihnachtsgeschenk für Buchhändler und Prominenz ausgesucht hat, wird er vielleicht bereuen. Dies ist bisher mein bösartigstes Buch.
Auf den Einband sollte ein Bildausschnitt von Hockney montiert werden. Das Smithsonian Museum hat das nicht genehmigt.
Politik ist ruhig im Augenblick. Die Slowenen scheinen es geschafft zu haben. Auch über das Baltikum hört man nichts Schlimmes. Eigentlich ja ein Wunder.
In Bautzen saßen einzelne Vertreter dieser kleinen Länder. Josef Kalikauskas hieß einer, mit dem hatte ich mich angefreundet. Ein Mann von eiserner Festigkeit. Guter Schachspieler, wie alle Leute im Osten.
Der Osten ist in einer großen Wolke von Schutt untergegangen. Es ist nichts geblieben. Und hier schweigen die Götter von damals. Der Kommunismus ist absolut mausetot. Das Soll ist beeindruckend, das sie hinterlassen haben: eine vernichtete Natur, zertrümmerte Städte, entmündigte, verbiesterte Menschen, eine tote Riesenkrake = Stasi u. ä.
Neulich:«War denn alles schlecht in der DDR?»
Antwort:«Leider ja.»
Noch jetzt gehen Tausende in den Westen. Leider fahren kaum Leute nach drüben auf Urlaub. Die Flaute vom letzten Jahr scheint sich sogar auf Rügen fortzusetzen. Ich werde wahrscheinlich nächste Woche fahren.
Die Mecklenburger behaupten, der Wetterbericht werde gefälscht, dauernd werde Regen prognostiziert, damit die Leute nicht nach Rügen fahren. Ein drolliger
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