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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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wenn
jemand vom Personal hereinkommt, sind wir geliefert.«
    »Stimmt, also sollten wir uns rasch etwas einfallen
lassen.«
    »Wie wäre es, wenn wir uns jeder einen Bücherkarton
schnappen und uns so an den Wachen vorbeimogeln?«
    »Viel zu riskant«, sagte Lisa und kratzte sich am Kinn.
»Man würde uns schnell erkennen.«
    »Warum? Wenn die Kartons hoch genug sind und wir nicht
zusammen, sondern in einem gewissen Abstand voneinander hinausgehen,
haben wir vielleicht eine Chance. Außerdem können wir
unsere Jacken ausziehen und in den Kartons verstecken. Dann sehen wir
eher wie harmlose Buchhändler aus. Zumindest passt dann unsere
Kleiderbeschreibung nicht mehr auf uns.«
    »Das ist verrückt«, sagte Lisa und schüttelte
den Kopf.
    »Hast du einen besseren Vorschlag?«
    Man konnte förmlich sehen, wie sie nachdachte. Sie knetete
ihre Unterlippe, kam aber zu keinem Ergebnis. »Na gut«,
sagte sie schließlich. »Wir sollten es vielleicht wirklich
versuchen. Mehr als schief gehen kann es nicht. Wenn wir beide
durchkommen, treffen wir uns unten in der U-Bahn-Station Neumarkt,
und zwar am Bahnsteig in Richtung Hauptbahnhof. Wir müssen
schließlich zusehen, dass wir nach Wittlich kommen.«
    »Wer geht zuerst?«, fragte ich.
    »Du.«
    Ich schnappte mir einen Bücherkarton, entfernte die oberste
Lage, zog meine Jacke aus und legte sie zwischen die Bücher.
Dann klappte ich den Karton wieder zu und setzte ihn mir auf die
rechte Schulter, sodass mein Kopf zu einer Seite hin abgeschirmt war.
Mit unsicheren Schritten ging ich los; der Karton war schrecklich
schwer.
    Ich kam an der Tür an, zog sie mit der linken Hand auf –
mit der rechten hielt ich krampfhaft den Karton fest – und
spähte kurz umher. Ich schien Glück zu haben: Es waren
keine Polizisten zu sehen.
    Ich bemühte mich, fest und zielstrebig zu gehen. Mein erstes
Ziel war die abwärts führende Rolltreppe. Ich schwankte ein
wenig, als ich sie betrat, konnte aber das Gleichgewicht halten.
    Unten im Erdgeschoss drängten sich die Kunden aneinander
vorbei; ich fiel kaum auf. Eine ältere Dame sprach mich an und
wollte wissen, wo die Köln-Bücher standen. Ich verwies sie
an eine junge Frau, deren Ansteckschildchen sie als Verkäuferin
auswies. Erleichtert ging ich weiter. So unglaubwürdig war mein
Auftreten offenbar nicht.
    Am Ausgang sah ich sie. Es waren zwei. Ihre Uniformen leuchteten
durch die gedeckten Farben der Passanten hindurch. Zum Glück
standen sie beide rechts neben dem weit offenen Eingang, sodass ich
meinen Karton nicht einmal auf die andere Schulter hieven musste.
Jetzt kam die Minute der Wahrheit. Ich packte den Karton noch fester,
senkte den Kopf und lief geradewegs an den beiden Polizisten vorbei.
Am liebsten hätte ich mich sofort umgeschaut, um zu erfahren, ob
meine List geglückt war, doch das hätte ihre Aufmerksamkeit
erregt. Oder war ich ihnen bereits aufgefallen? Empfindliche
Frühlingskälte traf mich, als ich im Freien stand. Sofort
wandte ich mich nach links auf die Treppe zu, die hinunter in die
U-Bahn führte.
    Ich hörte schnelle Schritte hinter mir. War ich entdeckt? War
ich verloren? Sollte ich den Karton fallen lassen und loslaufen? Ich
zwang mich, normal weiterzugehen. Da hasteten die Schritte an mir
vorbei auf die Treppe zu, die wie eine ausgestreckte Zunge aus dem
Mund der Erde kam. Es war nur ein junger Mann, der es sehr eilig
hatte. Ich atmete auf.
    Jetzt hatte ich die Treppe erreicht und stieg schnell hinab. Ich
lief durch die erst vor kurzem umgestaltete Verteilerebene mit ihren
vielen kleinen Läden und hastenden, drängelnden Passanten
und stieg dann zu dem Bahnsteig hinunter, von dem aus die Züge
in Richtung Hauptbahnhof abfuhren. Ich stellte den Karton ab, nahm
meine Jacke heraus und warf sie mir über die Schulter.
    Dann wartete ich auf Lisa.
    Die nicht kam.
    Wo blieb sie bloß? War etwas schief gegangen? Ich biss mir
vor Nervosität die Fingernägel ab. Hatte einer der
Verkäufer sie bereits entdeckt? Oder war sie nicht unbehelligt
an den Polizisten vorbeigekommen? Gütiger Himmel, betete ich,
lass sie doch bitte, bitte bald kommen!
    Leute quollen in dichten Trauben von oben herab, Menschenwogen,
die wirkten, als hätten sie keine eigenen Gedanken, kein eigenes
Bewusstsein, als stürzten sie auf ein Ziel zu, das sie nicht
kannten, das sie aber unbedingt erreichen wollten. Es kam Bahn nach
Bahn, sie nahmen die Menschenwogen auf und spuckten andere aus. Das
unterirdische Herz der Stadt, und die Menschen waren

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