Sonder-Edition - drei Romane (Das Mondgeheimnis, Die Gestoßenen, Den Teufel am Hals) (German Edition)
aushalten. Dann ein lang gezogener Schrei. Seine Mutter fiel wie ein Stein auf den Beton. Er hörte Knochen knacken. Es war zu spät, das wusste er in dem Moment. Trotzdem schleppte er sich zu ihr. Seine Finger an ihrer Schlagader. Kein Puls. Ihre Hand, ganz kalt. Er sackte auf seine Knie und ließ sich auf den Rücken sinken. Alles war verschwommen, unwirklich. Ein Albtraum.
Er biss sich auf die Lippen und zog die Scherbe aus der Elle. Gott, tat das weh! Sie klirrte vor ihm auf dem Boden aus. Er sah zu seiner Mutter. Sie lag leblos da, ein Bein unnatürlich verdreht. Unter ihrem Körper sammelte sich ein See aus Blut. Ein Blick in die Spiegelscherbe vor sich, und eine eigene Welt schien sich aufzutun. Aufwallender Nebel. Etwas Dunkles näherte sich. Als er Blut-Augen durch den Nebel erkennen konnte, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass das der Dämon war, den er beschworen hatte und der eben in seine Mutter gefahren war und sie getötet hatte. Seine tränennassen Wangen, sie fühlten sich gefroren an. Er warf seinen Mantel auf die Spiegelscherbe und rollte sich weg. Er kauerte sich ganz klein in eine Ecke, mit der Hand hielt er sich die blutende Elle und er sagte sich laut, das hier sei nur ein böser Traum.
***
Sebastian erwachte aus der Erinnerung und spürte, wie Tränen zwei brennende Spuren auf seiner Wange hinterlassen hatten. Mit dem Hemdärmel wischte er sich die Haut trocken und er fragte sich, wie es ihr wohl ging, da oben im Himmel. Könnte er doch nur noch einmal mit ihr sprechen! Sich von ihr in den Arm nehmen lassen, sich Rat holen, ihr einen Witz erzählen. Er musste lachen, als er daran dachte, wie sie ihm das Sterben vorspielte, nachdem sie eine Zigarette geraucht hatte. Auf den Küchenboden gelegt, die Zunge weit herausgestreckt und dabei gezuckt. Ein tiefer Grunzer entkam ihren Lippen, wobei sie meinte, das ginge noch besser, und sie noch einmal kräftig grunzte, dann lag sie leblos da, so überzeugend, dass er als Zehnjähriger tatsächlich glaubte, sie wäre nicht mehr am Leben. Bis zu ihrem Tod kam er dann auch nie auf die Idee, sich die Lunge mit Zigaretten zu teeren.
Ein Kribbeln im Hals kündigte ein erneutes Schluchzen an. Sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, tat ihm nicht gut. Für einen Moment war ihm, als würde ein Schatten über seiner Mutter liegen. Er bewegte sich, nahm eine Form an. Die Umrisse der kapuzenbemantelten Gestalt. Sebastian drehte das Bild in die einfallende Sonne und der Schatten war weg. Möglicherweise hatte er sich das nur eingebildet. Das Handy piepste. Eine SMS. Ihm zitterten die Hände, als er das Bild von seiner Mutter und seinem Onkel zurück stellte. Dann nahm er sein Handy zur Hand und klickte auf ‚Ansehen‘. Eine ihm fremde Nummer wurde angezeigt, mit zwei neuen Nachrichten.
‚Du, Sebi, ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich dir schreibe. Ich hab die Nummer von der Spülfrau und wollte fragen, ob du heute schon was vorhast?‘
Sebastian drückte auf die zweite SMS:
‚Falls nicht, könnten wir eventuell etwas zusammen machen. Liebe Grüße, Melissa.‘
Ihm klopfte das Herz immer noch vor Aufregung gegen die Brust, weil ihm die Gedanken an früher so nahe gingen. Die SMS musste er nochmals lesen, um sie überhaupt aufnehmen zu können. Er musste sich erst einmal ordnen und sich beruhigen, um zu verstehen, wer ihm da geschrieben hatte und was sie von ihm wollte. Melissa, die hübsche Neue aus seiner Arbeit. Sie wollte mit ihm was unternehmen. Gut. Er schrieb zurück, dass er Zeit hätte und was sie sich vorstellen könnte. Kurz, nachdem er die SMS abgeschickt hatte und sich eine Zigarette anzündete, kam postwendend ihre Antwort. ‚Gehst du gern ins Kino? Gestern ist der neue Film mit Tom Cruise angelaufen.‘
Darauf hatte er tatsächlich Lust und das antwortete er ihr auch. Einige SMS später stand fest, dass sie gegen 21:00 Uhr ins Cinecitta gehen würden.
***
Linda hatte sich seit ihrem Abschied nicht mehr gemeldet, auf keine SMS reagiert und keinen seiner Anrufe entgegen genommen. Auf dem Weg ins Cinecitta versuchte Sebastian, den Kopf freizube¬kommen. Die Sonne war am Untergehen, der Abend rötete den Himmel. Eine Taube tippelte vor ihm auf dem Gehsteig, Steinchen knirschten unter seinen Schuhen.
»Mach die Scheiß-Tür auf!«, hörte man einen Mann aus einem Haus schreien, die Straßenbahn fuhr vorbei. Sie bimmelte. Der Schatten des Radfahrers, der unter einer Laterne radelte, schien ein Eigenleben zu
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