Sonea - Die Heilerin: Roman
wildes, von Tieren beherrschtes Gewirr von Bäumen zu betreten, seltsam und ein wenig furchterregend gewesen. Von ihrem hohen Standort aus – im zweiten Stock eines Turms, der auf einem Hügel mit Blick auf den Wald erbaut war – konnte sie sehen, dass die Bereiche zwischen den Bäumen dicht ausgefüllt waren mit einem wüsten Gestrüpp toten Holzes und nachwachsender Vegetation. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ein Mensch durch dieses Gestrüpp gehen konnte, ohne zu stolpern. Wahrscheinlich nur sehr langsam.
Als der Anblick des Waldes sie zu langweilen begann, beschäftigte sie sich damit, sämtliche Gegenstände im Raum genau zu betrachten. Alle waren praktisch. Es gab keine Bücher, kein Papier, keine Schreibutensilien. Würden die Wachen ihr etwas davon bringen, wenn sie darum bat?
Die Tür zum Flur war aus schwerem, gutem Holz. Im Nachhinein hatte man ein kleines, quadratisches Stück Glas eingebaut, so dass die Wachen überprüfen konnten, wo ihre Gefangene war, bevor sie die Tür öffneten. Außerdem befand sich eine Tür zwischen ihrem Zimmer und dem benachbarten. Sie hatte am vergangenen Abend versucht, den Türknauf zu drehen, weil sie gedacht hatte, die Tür führe vielleicht zu einem zweiten Raum – vielleicht einem privateren Waschraum –, aber er hatte sich nicht bewegen lassen. Jetzt trat sie wieder vor die Tür und fragte sich, was dahinter lag. Aus Neugier drückte sie ein Ohr an das Holz.
Zu ihrer Überraschung konnte sie eine Stimme hören. Eine Frauenstimme. Sie konnte nicht hören, was die Frau sagte, aber das Geräusch war ziemlich melodisch. Vielleicht sang die Frau.
Ein Klopfen an der Haupttür ließ sie heftig zusammenzucken. Da sie wusste, dass man sie dabei beobachtet haben würde, wie sie ihre Nachbarin belauschte, trat Lilia hastig von der Nebentür weg.
Die Haupttür wurde geöffnet, und ein lächelnder Wachposten trat mit einem Tablett ein. Er war jung – nur wenige Jahre älter als sie. Auf dem Tablett befand sich eine typisch kyralische Morgenmahlzeit.
»Einen guten Morgen, Lilia«, sagte er und stellte das Tablett auf den kleinen Esstisch. »Habt Ihr gut geschlafen?«
Sie nickte.
»Habt Ihr es warm genug? Braucht Ihr weitere Decken?«
Sie nickte, dann schüttelte sie den Kopf.
»Soll ich Euch irgendetwas bringen?« Sein Benehmen war seltsam freundlich für einen Mann in einer Uniform, die man für gewöhnlich mit Autorität und Gewalt in Verbindung brachte.
Sie dachte nach. Besser, ich nehme das Angebot an. Ich werde lange hier sein.
»Bücher?«
Sein Lächeln wurde breiter. »Ich werde sehen, was ich für Euch auftreiben kann. Sonst noch etwas?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nun, Ihr seid leicht zufriedenzustellen. Die nebenan will Garn aus Reberwolle, damit sie Decken und Mützen machen kann.«
Lilia blickte zu der Seitenwand, die sie von ihrer singenden Nachbarin trennte. »Wer …?«, begann sie.
Zum ersten Mal verblasste das Lächeln des Wachmanns, und er runzelte die Stirn. »Lorandra. Die wilde Magierin, die von Schwarzmagierin Sonea gefangen wurde. Eine seltsam aussehende Frau, aber sie ist höflich und bereitet uns keine Schwierigkeiten.«
Lilia nickte. Sie hatte von der wilden Magierin gehört. Der Sohn der Frau war ebenfalls ein wilder Magier, den man noch nicht aufgespürt hatte. Er arbeitete für einen Dieb oder etwas in der Art.
»Mein Name ist Welor«, eröffnete ihr der Wachposten. »Ich soll dafür sorgen, dass Ihr es bequem habt, während Ihr bei uns im Ausguck seid. Ich werde Euch einige Bücher beschaffen. In der Zwischenzeit«, er deutete mit dem Kopf auf das Tablett, »wird ein wenig Essen Euch helfen, Euch zu wärmen.«
»Danke«, brachte sie heraus. Er nickte, zog sich zur Tür zurück und lächelte noch einmal, bevor er sie schloss.
Trotz all der Freundlichkeit und seines entgegenkommenden Benehmens war das Klirren des Schlosses, in dem sich jetzt der Schlüssel drehte, fest und ohne Zögern. Mit einem Seufzen setzte Lilia sich hin und begann zu essen.
Als Lorkin an diesem Morgen in die Krankenstation zurückgekehrt war, hatte sich eine unerklärliche Stimmung Kalias bemächtigt. Mit einem neutralen Tonfall und leerer Miene erklärte sie Lorkin, dass die alte Frau, die am Kältefieber gelitten hatte, während der Nacht gestorben war.
Sie verlor kein Wort über Velyla, aber er stellte bald fest, dass die heimliche Heilung der vergangenen Nacht ihn nicht mehr allzu sehr beschäftigte, während er sich zu sorgen begann, wie
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