Sonne, Meer und Bea (German Edition)
englische Alphabet, das die Kleine in Abständen immer wieder mit schiefen, dafür umso lauteren Tönen zum Besten gibt. Die Mutter klatscht dazu begeistert und sagt ständig »Well done , Sadhana«. Ja, der Name passt. Das Kind ist ein echter Satansbraten und tyrannisiert nun nicht mehr unsere Ohren, sondern ein jüngeres Mädchen aus dem Nachbar-Abteil. Sie schubst es wiederholt und reißt schließlich dessen Plastikkarusell an sich. Das Kind fängt an zu brüllen, aber die Mutter von Sadhana sieht keine Veranlassung ihre Tochter zu maßregeln, sondern tut stattdessen so, als gehe sie das alles nichts an. Dem älteren Ehepaar geht das Verhalten von Sadhana nun zu weit. Die Frau greift ein, entwendet ihr das Spielzeug und gibt es dem anderen Mädchen zurück. Ich lächle sie dankbar an, als sie wieder ihren Platz gegenüber von mir einnimmt.
Sadhana hingegen hat so etwas wohl noch nicht erlebt und verharrt zunächst in einer Schockstarre, bevor sie sich wieder zu ihrer Mutter setzt. Der herrliche Zustand von Ruhe währt allerdings nicht lange, denn Sadhana wurmt es, keine Aufmerksamkeit mehr zu erhalten, weshalb sie aufsteht und durch den Wagen turnt. Paul, ich und unsere Banknachbarn versuchen sie nun komplett zu ignorieren, was sie jedoch lediglich zu Höchstleistungen anspornt.
Glücklicherweise wird irgendwann jedes Kind müde und so gibt Sanalein nach einer gefühlten Ewigkeit auf und lässt sich von ihrer Mutter mit Essen anlocken. Aus einem in Zeitung eingeschlagenen Paket fördert diese Reis, Gemüse und Chapatis zutage. Schmatzend wird das Mahl verzehrt, wobei die Mutter diesmal tonangebend ist. Die Reste landen mitten auf dem Gang neben mir. Ich rücke näher zu Paul in die Mitte unserer Bank. Da es schon halb sieben am Abend ist, packen auch wir unser Essen aus. Ein helles, süßes Brot, zu dem wir uns einen weiteren Chai von einem der Verkäufer im Zug gönnen.
Nach dem Essen passiert nicht mehr viel. Wir blättern noch in ein paar englischsprachigen Magazinen, die Paul zusammen mit dem Brot am Bahnsteig besorgt hat, und um acht Uhr wollen unsere Mitreisenden bereits die Betten einnehmen. Die Rückwand unserer Bank klappen wir mit Hilfe des jungen Familienvaters nach oben. Sie wird mit zwei Ketten an der obersten Pritsche angehängt. Es entstehen drei Liegen: Unten, Mitte und Oben. Pauls Pritsche ist die Mittlere. Ich ziehe meine Schuhe aus und klettere nach oben, wo es so eng ist, dass ich Schwierigkeiten habe in meinen Schlafsack zu schlüpfen. Währenddessen dreht Sadhana noch mal auf und singt erneut inbrünstig ihre Lieder. Sie möchte partout nicht schlafen. Aber da nun überall nacheinander das Licht ausgeht, gibt sie bald auf und es kehrt Ruhe ein. Ich beuge ich mich runter zu Paul, wir geben uns die Hand und sagen: »Gute Nacht!« Eine ungewohnte Situation, aber das Intimste, was in einem voll besetzten indischen Zug möglich ist.
Mein Schlaf ist unruhig: An jeder Haltestelle wache ich auf. Und wenn ich wieder eindöse, baue ich das Klappern des Ventilators über mir in meine wirren Träume ein. Morgens um sieben werde ich von den Geräuschen und Stimmen unserer Mitreisenden wach. Gegenüber klappen sie das mittlere Bett zum Sitzen hinunter. Ich schaue über den Rand meiner Pritsche und werde mit einem freundlichen »Good morning « begrüßt, das wohl auch Paul gilt, denn er antwortet mit mir unisono. Daraufhin streckt er seine Hand zu mir hinauf. Ich beuge mich zu ihm hinunter und wir begrüßen uns zum Morgen ebenso förmlich wie gestern die Abendgrüße ausfielen. Dabei sieht er unverschämt gut aus mit seinen zerzausten Haaren und ich würde am liebsten drüber wuscheln. Sein fröhlicher Blick zeigt mir, dass er besser geschlafen hat. Mit schmerzendem Rücken klettere ich nach unten, strecke mich und hole den Schlafsack und meine Wasserflasche von meiner Pritsche. Paul klappt sein Bett wieder zur Rückenlehne hinunter und schon sitzen wir da wie am Vortag. Sadhana schläft noch und sieht dabei so ruhig und friedlich aus, dass ich mich frage, ob es sich tatsächlich um ein und dasselbe Kind handelt, welches mir wenige Stunden zuvor den letzten Nerv raubte.
Das viele Wasser, das ich in der Nacht getrunken habe, möchte langsam wieder raus und ich suche mit mulmigem Gefühl die Zuglatrine auf. Gestern Abend war sie bereits in einem fortgeschrittenen Siffigkeitsstadium und ich befürchte das Schlimmste. Mein Gefühl wird nicht getäuscht. Der Boden ist nass und mit Schmutz und Haaren
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