Sonnenfeuer
zumindest ein wenig.
Nachdem sie einen Apfel gegessen hatte, machte sie sich wieder auf den Weg. Ständig auf der Hut vor möglichen Überraschungen zog sie sich an den Baumstämmen die steile Böschung hinauf. Wenn sie den Gipfel des Wasserfalls erreicht hatte, würde sie zu den Höhlen weitergehen. Alles, was die Aborigines brauchten, waren Nahrung und ein Unterschlupf, sinnierte sie, doch in der Welt der Weißen benötigte man so vieles mehr, in erster Linie Geld. Sie schob einige dicht herabhängende Zweige beiseite und schrie auf. Ein weiß bemaltes Gesicht starrte ihr entgegen!
Der Mann packte sie grob am Arm und drängte sie gegen einen Baum. Dann griff seine große Faust nach ihrem Unterhemd, und er schüttelte sie hin und her.
»Halt«, rief sie unwillkürlich auf Englisch und schubste den verwirrten jungen Schwarzen zurück. »Irukandji!« herrschte sie ihn an. Er ließ von ihr ab und sah sie erstaunt an.
»Irukandji«, rief sie noch einmal, diesmal schwang jedoch Angst in ihrer Stimme mit. Was, wenn er kein Irukandji war? Wenn er dieses Wort noch nie gehört hatte? Wie konnte sie ihm entkommen?
Aufgeregt fuhr er mit der Zunge über seine Lippen und nickte. »Irukandji«, dann fragend: »Irukandji?«
»Ja, ja, ja.« Kagari fiel ihm lachend um den Hals. »Irukandji. Ich bin Kagari.«
Verunsichert machte er sich von ihr los. Er war vielleicht sechzehn Jahre alt und zu jung, um sich an sie zu erinnern. Außerdem wußte er offenbar nicht, wie er sich unter diesen Umständen verhalten sollte. Doch gleich hatte er seine Fassung wiedergewonnen und richtete seinen Speer auf sie.
Um ihn zu beruhigen, lächelte sie ihn an und gab ihm mit ausgebreiteten Armen zu verstehen, daß er nichts von ihr zu befürchten hatte. Doch der junge Mann versetzte ihr unvermittelt einen kräftigen Stoß, der sie rücklings zu Boden warf. Im selben Augenblick packte er ihr Bein, verdrehte es mit einem heftigen Ruck und nahm ihr das Messer ab. Ihre Schulter schmerzte von dem Aufprall, und als sie versuchte, ihr Knie zu beugen, traten ihr Tränen in die Augen. »Mistkerl«, murmelte sie auf Englisch. Er stieß Kagari mit dem Speer an und bedeutete ihr, aufzustehen. Mit sichtlicher Zufriedenheit sah er, wie sie sich mühsam an einem Baumstamm hochzog, und sie erkannte, daß er sie absichtlich verletzt hatte, damit sie nicht weglaufen konnte. Der kräftig gebaute und schlanke Bursche war etwa so groß wie sie und trug lediglich um die Hüften ein gebundenes Schnurgeflecht. Brust und Gesicht waren mit Schlamm beschmiert und mit großen weißen Punkten bemalt. Inzwischen wirkte er nicht mehr so furchteinflößend auf Kagari, doch sie wußte, daß sie auf der Hut sein mußte. Ihre Anwesenheit hatte ihn in Unruhe versetzt, und immer wieder spähte er in den Busch, um sich zu vergewissern, ob sie allein gekommen war.
Verzweifelt suchte sie nach Worten aus der Sprache ihrer Kindheit, doch sie wollten ihr einfach nicht einfallen. Und so humpelte sie weiter, vorangetrieben von der Speerspitze, die sich ihr in den Rücken bohrte. Die Schmerzen in ihrem Knie waren kaum auszuhalten und wurden durch die Steigung des Weges noch schlimmer, doch sie biß die Zähne zusammen. Mehrmals fiel sie hin, aber ihr Bewacher machte keine Anstalten, ihr aufzuhelfen. Was bin ich nur für eine Närrin, schalt sie sich. Sie hätte warten sollen, bis jemand mit den Aborigines in Verbindung trat. Dieser ungeduldige junge Kundschafter oder Krieger hatte noch nicht einmal deutlich gemacht, zu welchem Stamm er gehörte, er hatte lediglich das Wort »Irukandji« erkannt. Womöglich brachte er sie zu einem fremden Stamm. Aber sie mußte zu ihrer Familie, zu jemandem, der sie kannte.
Sie betrachtete ihre blutigen Hände, die sie sich aufgekratzt hatte, als sie im Dornengestrüpp nach Halt gesucht hatte. »Wogaburra«, sagte sie plötzlich und wandte sich zu dem Krieger um. Und mit einem mal sprudelten die vergessenen Worte aus ihr hervor. »Bring mich zu Wogaburra. Ich bin seine Tochter Kagari.«
Für ihn schien es offenbar ganz selbstverständlich, daß sie in seiner Sprache redete. »Dieser Mann ist tot. Geh weiter.«
»O nein«, seufzte sie. Zwar hatte sie diese Möglichkeit in Betracht gezogen, aber sie war trotzdem betroffen. »Luka, meine Mutter – kennst du sie?«
»Ja. Luka ist nicht tot.«
»Dann bring mich zu Luka.«
Er schüttelte den Kopf. »Du lügst.«
Sie richtete sich auf und blickte ihm in die Augen. »Dann führe mich zu Tajatella«, befahl
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