Sonnenfinsternis: Kriminalroman
schliesslich nicht das letzte Mal im Leben sein, dass mich jemand nicht leiden könne. Und meine Mutter machte halt immer, was mein Vater wollte. Von ihr kam also auch keine Hilfe. Ich war richtig verzweifelt. Eines Tages hat sich Kalle dann darum gekümmert. Ich weiss noch genau, wir waren in meinem Zimmer und ich weinte wieder einmal. Er schaute mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an und sagte ‹so, das hört jetzt au f› oder sowas ähnliches. Gleich vom nächsten Tag an ignorierte mich die alte Schachtel komplett . Das war zwar auch nicht wirklich toll, aber trotzdem viel besser als vorher .»
«Und wie ging das dann weiter?»
«Na ja, als Karl-Johann in die Mittelschule kam, begann er sich zu verändern. Er verbrachte immer weniger Zeit zu Hause und erzählte mir gar nicht mehr, was er so machte. Und ausserdem wurde er rasend eifersüchtig. Auch sein ganzer Freundeskreis änderte sich. Eines Tages rasierte er sich dann den Kopf und begann, diese bescheuerte Skinhead-Kluft zu tragen. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, was das bedeutete. Meine beste Freundin damals war eine Türkin namens Aysel, und in den nächsten Jahren hatten mein Bruder und ich oft Streit, weil er begann, sie schlecht zu machen . Er nannte sie nur die Kanakin . U nd er machte mir Vorwürfe, weil ich mit ihr befreundet war .» Sie starrte an meinem Gesicht vorbei ins Leere und erklärte: «Wissen Sie, so nennen…»
«Ich weiss», unterbrach ich sie.
«Gut», fuhr sie fort und schaute mir in die Augen, «dann können Sie sich sicher auch vorstellen, welches Theater er veranstaltete, als ich mit siebzehn einmal mit Aysels Bruder Kerem ausging. Da flogen wirklich die Fetzen. Er hat es mir kategorisch verboten. Ich habe gesagt, er könne mir gar nichts verbieten und… na ja, den Rest können Sie sich ja sicher ausmalen.»
Ich nickte.
«Eben», fuhr sie fort, «danach ging ich eine Zeit lang aus Trotz fast nur mit Türken und Albanern aus. Mit achtzehn kamen Kerem und ich dann wieder zusammen. Es war mir richtig ernst mit ihm.» Sie rutschte etwas verlegen auf ihrem Stuhl herum. « Wissen Sie, i ch war damals noch Jungfrau. Ja, ich weiss, für heutige Verhältnisse war ich eine Spätzünderin. Aber ich wollte , dass mein erstes Mal etwas Besonderes war. Und bei Kerem hatte ich dieses Gefühl. Ich wartete nur darauf, dass er mich fragte. Was er dann nach etwa fünf Monaten auch tat. Er war zwei Jahre älter als ich. Ich wollte nur noch auf den richtigen Moment warten. Dann machte ich leider den Fehler, dies einer Freundin anzuvertrauen. Sie himmelte Karl-Johann an und dachte wohl, sie könne bei ihm landen, wenn sie es ihm weiter erzähle. Mein Bruder war damals gerade aus der Armee ausge schlossen worden und hatte eine Stinkwut im Bauch. Er und mehrere seiner Schläger kumpane lauerten dann Kerem und Aysel eines Nachts auf, als sie aus dem Kino zurück kamen. Aysel haben sie die Haare abgeschnitten und Kerem spitalreif geprügelt. Er hatte mehrere Knochenbrüche und innere Blutungen. Danach wollten beide nichts mehr mit mir zu tun haben. Statt mich zu trösten oder sich zu entschuldigen hat Karl-Johann mir vorgehalten, nur sein Eingreifen habe mich davor bewahrt, ‹ Blutschande › zu begehen . W as immer das sein soll. Und ich müsse ihm noch dankbar sein dafür !» Die Erinnerung hatte sie wieder in Rage ge bracht.
«Okay», fragte ich in besänftigendem Ton , «darf ich Sie dazu etwas fragen?»
Sie nickte.
«War das der Grund, weshalb ihr Bruder mit einundzwanzig wegen Körper ver letzung im Knast sass ?»
Sie nickte erneut, sagte aber nichts.
Ich blätterte in meinem Notizblock zurück bis zur Seite, in der ich Neumanns Informationen über Kalle Rappolder zusammengefasst hatte , und ergänzte diese.
Sarah Rappolder lächelte zaghaft. «Fragen Sie sich nicht, weshalb Karl-Johann dann trotzdem öfters hier bei mir ist?»
Diesmal war ich es, der nickte.
Sie räusperte sich. «Ich vermisse den Karl-Johann aus meiner Kindheit, wissen Sie. Nach dem Vorfall mit Aysel und Kerem wollte ich ihn jahrelang nicht mehr sehen. Dann zog er für sein Studium nach Zürich, und weitere drei Jahre später kam ich ebenfalls hierher. Eines Tages rief er mich schliesslich aus heiterem Himmel an und fragte, ob er mich besuchen dürfe. Ich meine, er fragte! In den Jahren davor hatte er mir immer nur gesagt, was ich zu tun hatte. Ich dachte, er habe sich vielleicht geändert. Er sei daraus herausgewachsen. Ich meine, als wir uns wiedersahen,
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