Sonnenfinsternis: Kriminalroman
können? Etwas, das mir weiterhelfen könnte? Egal was.»
Sie dachte einige Sekunden lang nach. Dann nickte sie wortlos und ver schwand in einem der Zimmer. Gleich darauf kam sie mit einem kleinen , zer fledderten Büchlein zurück , das sie mir wortlos überreichte.
Ich schlug es auf und blätterte darin. Die ersten zwei Drittel der vielleicht etwa hundert Seiten enthielten Einträge in einer präzisen, verschnörkelten Handschrift. Mal standen nur ein paar Worte auf einer Seite, dann wieder war eine Seite plötzlich komplett vollgeschrieben, mit vielen Randnotizen und Anmerkungen. Ich verstand kein Wort davon und schaute Sarah fragend an.
Sie meinte: «Das ist Mujos Tagebuch. Denke ich. Ich kann es ja nicht lesen, aber ich glaube , dass es das ist.»
«Wie kommen Sie dazu?»
«Er hat es einmal bei mir liegen lassen.»
«Und wieso haben Sie es ihm nicht zurück gegeben?»
Sie zuckte mit den Achseln und meinte verschämt: «Mujo ist… war ein sehr verschlossener Mensch. Er dachte, er hätte es im Tram vergessen, und so sagte ich nichts… weil ich… weil…»
Sie verwarf hilflos die Arme und sprach nicht weiter.
«Weil Sie damit etwas Persönliches von ihm hatten, nicht wahr?», fragte ich sanft. «Etwas, das Sie an ihn erinnerte und das Sie anfassen konnten, wenn er nicht hier war?»
«Ja», sagte sie leise, «genau.»
«Darf ich es trotzdem mitnehmen? Ich muss es untersuchen lassen. Wer weiss, vielleicht finden wir einen Hinweis darin, der uns weiterhilft. Ich verspreche, dass Sie es wiederkriegen.»
«Denken Sie, es hilft ihnen, seinen Mörder zu finden?»
«Ich weiss es nicht. Aber ich habe sonst nichts.»
«Also gut», lenkte sie ein. «Aber bitte sagen Sie seiner Frau nicht, dass Sie es von mir haben. Und lassen Sie es sich nicht wegnehmen. Es ist das einzige, was mir von ihm bleibt.»
«Versprochen . Und danke!»
Sie nickte verloren und schloss wortlos die Tür hinter mir.
Auf dem Weg nach Hause schaltete ich das Radio ein. Auf DRS3 lief eine neue Folge von Roger Grafs Philip Maloney . Die Aufklärungs rate des übel launi gen Zürcher Hörspiel- Privatdetektiv s lag um ein Vielfaches höher als meine. Auch ihn hätte ich gerne um Rat gefragt, wenn er nur nicht fiktiv gewesen wäre.
Zum wiederholten Mal schüttelte ich den Kopf darüber, wie sich mein Fall entwickelte. Je mehr ich mit den involvierten Personen sprach und je mehr sie mir erzählten, desto weniger schien ich zu wissen. Ein erstaunliches Phänomen.
Kapitel 21
Ivica und ich sassen auf Klappstühlen im kleinen Hinterzimmerbüro des SZA und tranken montenegrinisches Nikšićko-Bier, während auf dem einzigen guten Stuhl im Raum, einem teuren Büromodell mit weichem Polster und schwarzem Lederüberzug, seine Frau Alenka seit einer guten Viertelstunde eingehend Mujos Tagebuch studierte. Ich hatte sie gleich nach meinem Besuch bei Sarah Rappolder angerufen und gefragt, ob sie Bosnisch lesen könne. Sie hatte bejaht , da es sehr eng mit Serbisch und Kroatisch verwandt sei. Gleichzeitig hatte sie mich informiert, dass Ivica heute Nachmittag zurückerwartet wurde. Und, was das Beste war, sie hatte mich zum Mittagessen eingeladen. Am frühen Nachmittag hatten wir Ivica dann vom Flughafen abgeholt und waren alle zusammen zum SZA gefahren, nachdem ich sein herz haftes Gelächter über meine zerbeulte Erscheinung über mich ergehen lassen hatte.
Ich schaute Ivica über den Rand meiner Bierflasche hinweg an und fragte mich wieder einmal, wie es eigentlich kam, dass meine zwei besten Freunde ein moralinsaurer Vollblutpolizist und ein kriegs erfahrenes kroatisches Schlitzohr waren. Wie lange kannte ich Ivi schon? Fast dreissig Jahre. Sein voller Name war Ivica Branko Sanader und er war zwei Jahre älter als ich. Seine kleine Schwester und ich waren zusammen eingeschult worden , und gemeinsam hatten wir unsere erste Lehrerin fast zur Verzweiflung gebracht . Ivi und ich hatten viel Zeit zusammen auf dem Sportplatz verbracht. Nach der Scheidung meiner Eltern waren meine Geschwister und ich mit unserer Mutter für drei Jahre nach Chicago gezogen. Und wer war wohl ein paar Jahre später die allererste Person , die ich nach meiner Rückkehr angetroffen hatte? Natürlich Ivica, der mittlerweile eingebürgert worden war . Danach hatten wir viel Zeit zusammen verbracht , da er mein Interesse an Mädchen und Alkohol teilt e . Erst als er nach Abschluss seiner Lehre die Rekrutenschule absolvieren musste, hatten wir uns aus den Augen verloren, und
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