Sonnenfinsternis: Kriminalroman
ausgeschmückten Beschreibun gen dessen, was im gleichen Moment angeblich gerade mit seiner Frau geschah. Später erfuhr er, dass nichts davon wahr war. Dazu fragten sie ihn Dinge, von denen ihnen klar sein musste, dass er sie auf keinen Fall wissen konnte : Wo waren die Stellungen der bosnischen Armee? Wo würde diese als nächstes angreifen? Wo waren die Mudschahed d in?
Insgesamt wurde Begić dreimal zum Tunnel gebracht. Noch schlim mer aber war es für ihn, wenn er zusehen musste, wie seine Söhne abgeholt und Stunden später völlig zerschunden wieder zurückgebracht wurden. Ausserdem machte ihn die quälende Ungewissheit darüber, was mit seiner geliebten Frau geschehen war, fast verrückt. Seine Nerven waren zum Zerreissen gespannt , und der einst so friedfertige Lehrer explodierte nun beim geringsten Anlass.
Allen Häftlinge n ging es ähnlich . Mujo Hasanović, dessen überleben der Bruder ebenfalls unter den Gefangenen war, sorgte dafür, dass sie nicht wahn sinnig wurden während dieser Zeit. Trotz seiner Jugend und obwohl ihm die Peini ger die Hand zerschmettert hatten und ihm diese Tag und Nacht unerträgliche Schmer zen bereiten musste, stand er wie ein Fels in der Brandung dieses Meer e s aus Leid und Verzweiflung. Jeder, der endgültig verzagen wollte, fand Mujo neben sich, der ihm gut zuredete. Mujo trieb sie an. Mujo hielt sie zusammen. Mujo gab ihnen Hoffnung, wo es eigentlich gar keine mehr gab .
Manchmal sprachen die Häftlinge halblaut miteinander. Sie erzähl ten nur selten davon, was ihnen im Tunnel widerfahren war, aber sie disku tierten Eindrücke und Informationen, die sie aufgeschnappt hatten. Begić der Lehrer hörte schweigend zu und stellte in seinem Kopf nach und nach eine Chronik über ihre Zeit im Lager zusammen.
Es stellte sich heraus, dass Luka Princip gerne über sich sprach, während er Leute quälte. Aus den kollektiven Erzählungen der Anderen setzte Begić zusammen , dass Princip ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt sein musste , weder Brüder noch Schwestern hatte und aus Belgrad stammte. Er war unglaublich stolz darauf, zu den allerersten Mitgliedern der Serbischen Freiwilligengarde gehört zu haben, nachdem Arkan diese im Oktober 1990 aus den Hooligans des Fussball klubs Roter Stern Belgrad geformt hatte. Ausserdem gab er damit an, dass die im Vergleich zu anderen paramilitärischen Einheiten auffallend moder ne Ausrüstung der Arkanovci direkt durch die serbische Polizei gelie fert wurde.
Irgendwann erhielten sie endlich ihre Kleider zurück. Geld, Schmuck, Uhren und alles andere, was irgendeinen Wert hatte, blieb verschwunden.
Am zehnten Tag warf einer der Weissen Adler eine Tränengas gra nate durch die Drahtmaschen ihrer Gefängnistüre und schrie dazu: «Atmet tief ein, ihr Balija -Schweine!» Kurz darauf liess eine der regulä ren Wachen die hustenden , keuchenden und würgenden Gefangenen ins Freie.
Am elften Tag wurden die acht wohlhabendsten der Ahatovići-Män ner kurz nach Mittag abgeholt. Sie kamen nicht mehr zurück. Begić erfuhr nie, was mit ihnen geschehen war.
Schliesslich, am Morgen des 14. Juni 1992 öffnete sich die Tür und Vedran Jovanović, flankiert von zwei stämmigen VRS-Soldaten, kam herein. Er lächelte freundlich und teilte den verblüfften Insassen mit, dass sie noch am gleichen Tag gegen einige von den Bosniaken verhaftete Serben ausgetauscht werden sollten.
Die Laune der Häftlinge änderte sich schlagartig. Ihre geistige und körperliche Erschöpfung liessen sie nun komplett überreagieren, und so jubilierten sie und schrien sie und redeten sie wild durcheinander. Als sich die Stimmung schliesslich einigermassen beruhigt hatte, diskutierten sie in kleinen Gruppen leise darüber , wie es wohl nach ihrer Freilassung weitergehen würde und ob sie sich vor dem Austausch noch waschen k ö nnten. Begić war skeptisch und sollte Recht behalten.
Etwa zwei Stunden später wurde die Tür erneut aufgerissen. Luka Princip stand im Türrahmen. Das aufgeregte Schnattern der Gefangenen verstummte abrupt. «Raus, Balije », befahl er barsch, «aber zackig!»
Draussen vor der Zisterne stand einer der langgezogenen zivilen Ortsbusse des städti schen Nahverkehrsunternehmen Gradski Saobraćaj Sarajevo , kurz GRAS, mit mehr Steh- als Sitzplätzen und sieben Fenstern auf jeder Seite. Er war zwei farbig gestrichen: Oben weiss, unten rot. Unter dem langen ovalen Fenster neben der Fahrertüre prangte weiss auf rot die Zahl ‹75›. Inmitten all der
Weitere Kostenlose Bücher