Sonnenfinsternis: Kriminalroman
ist mit dir? Bist du verwundet?»
«Nur ein paar Kratzer am Rücken, denke ich. Aber mit meinem Bein stimmt etwas nicht.»
«Lass mal sehen.» Begić untersuchte nun seinerseits Mujos Ver letzun gen. Zwei Granatsplitter waren unterhalb des Schulterblattes ein ge drungen, aber da er noch atmete und redete und auch nicht aus dem Mund blutete , hatten sie wohl glücklicherweise weder Lunge noch Herz erwischt. Das rechte Bein war eine andere Sache. «Zwei Kugeln. Nein, warte, sogar drei. Hier, auf der äusseren Seite des Oberschenkels. Es blutet nicht stark. Ich glaub, sie sind noch drin, aber ich kann nicht viel sehen. Wir müssen d eine Hose irgendwie aufreissen. Oder aufschnei den.»
«Keine Zeit! Hilf mir, das Bein hier oben abzubinden.»
Begić riss einen blutgetränkten Streifen vom Hemd einer der Lei chen und band das Bein oberhalb der Schussverletzungen ab.
Mujo stöhnte leise. Dann versuchte er sich aufzurichten. Das Bein trug sein Gewicht, der Knochen schien also nicht verletzt worden zu sein. «Wir müssen hier verschwinden», stiess er leise hervor, «vielleicht kommen sie zurück.»
In den folgenden Minuten versuchten sie verzweifelt, weitere Überlebende zu finden. In der Mitte des Bus s es fanden sie Salih Karabasić, dessen fehlendes linkes Ohr und langer blutiger Schorf auf der Nase seinem Gesicht einen absurd asymmetrischen Ausdruck verliehen. «Sind sie weg?», flüsterte er leise.
«Ja», antwortete Mujo, «aber wer weiss für wie lange. Beeil dich!»
Auf dem Weg nach draussen machten sich noch vier weitere blutver krus te te Gestalten bemerkbar. Weder Begićs Söhne noch Mujos Bruder waren darunter. Begić war fassung s los . Nur sieben Überlebende von sechsundfünfzig!
Während Mujo den anderen half, aus dem Bus zu klettern, schaute sich Begić mechanisch um. Der Bus stand am Rande einer kleinen Lichtung, auf einer Art rundem Kehrplatz, dessen Seiten mit Kopfstein gepflastert waren. In der Mitte wuchs Gras. Zu Begićs Linken war eine kleine Steinmauer in den Hang gebaut, hinter der sich der Gipfel des Hügels steil erhob. Der Platz war auf drei Seiten von Nadelwald umgeben.
Unterdessen standen die übrigen Überlebenden im Kreis um Mujo Hasanović herum und schauten ihn erwartungsvoll an. Dieser überlegte nur kurz. Dann flüsterte er « mir nach! » und hinkte so schnell es ging zum nahen Waldrand, gefolgt von den A nderen. Begić humpelte ihnen nach.
Das traurige Grüppchen folgte einem kleinen Trampelpfad etwa fünfzig Meter in den Wald hinein, dann versteckten sie sich im dichten Unterholz und bildeten einen kleinen Kreis. Salih, der am leichtesten verletzt war, wurde als Ausguck postiert. Die anderen schauten Mujo Hasanović erwartungsvoll an. Dieser holte tief Luft und sagte leise: « Also, hier ist, was ich denke: Bihać ist zu weit weg und Sarajevo ist umzingelt. Ich sehe nur eine Möglichkeit. Tuzla.»
Sie alle hatten in den letzten Wochen im staatlichen Radio von der erfolg reichen Verteidigung der multiethnischen Stadt in Nordostbosnien gehört. Bos niaki sche Erfolgsgeschichten waren rar zu dieser Zeit, und innert kürzester Zeit war die etwa einhundertdreissig Kilometer von Sarajevo entfernte Industrie metro pole zum Magneten für Flüchtlinge aus der ganzen Region geworden. Trotzdem waren nicht alle der Flüchtlinge einverstanden. Begić, Salih und der Schwieger sohn des im Lager ermordeten alten Forić, Hasan Gradaščević, stimmten Mujo zu. Die anderen drei Überlebenden wollten unbedingt nach Ahatovići zurückkehren. Als sie sich auch nach einigen Minuten nicht einigen konnten, beschlossen sie schliesslich, getrennte Wege zu gehen.
Gerade als sie aufbrechen wollten, hörten sie plötzlich Motoren ge räu sche. Sie erstarrten für einen Moment, dann warfen sich alle instinktiv zu Boden . Kurz darauf ertönte eine lange Serie Gewehrfeuer , dann g leich darauf noch eine zweite , gefolgt von erneuten Motorengeräuschen. Obwohl sich diese zu entfernen schienen, blieb das kleine Grüppchen zur Sicherheit regungslos liegen.
E inige Minuten später hörten sie leise Schritte. Z u ihrer Erleichte rung war es jedoch nur Salih , der durch das Unterholz brach und berichtete, dass eines der Begleit fahrzeuge des Konvois , ein VW Golf, zurückge kehrt sei. Einer von Princips Männern sei ausgestiegen, habe den Bus betreten und kurz darauf zwei ganze Magazine auf die Toten abgefeuert – wohl um sicherzugehen, dass auch wirklich keiner mehr aussagen konnte.
«Wir müssen hier
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