Sonnenfinsternis: Kriminalroman
weg», sagte Mujo. Die anderen nickten.
Die beiden Gruppen verabschiedeten sich schweren Herzens vonei nan der und machten sich in verschiedene Richtungen auf den Weg.
In den nächsten zwei Tagen gelang es Mujo Hasanović und den ande ren drei tatsächlich, sich mühevoll nach Tuzla durchzuschlagen. Zuerst versuchten sie es zu Fuss, aber bald wurde klar, dass dies in ihrem Zustand keine Option war, und so stahlen sie ein Fahrzeug von einem einsamen Hof. Mehrmals liefen sie auf ihrem Weg beinahe serbischen Kräften in die Arme, und zuletzt wurden sie kurz vor der Stadt um ein Haar von einer muslimischen Patrouille erschossen, aber sie schafften es.
Noch am Tag ihrer Ankunft, zwei Tage nach dem Massaker, brachte das bosni sche Staatsfernsehen aufgrund ihrer Zeugenaussagen einen Beitrag, in dem die Gräuel tat angeprangert wurde. Die serbische Führung tat dies umgehend als Propa ganda ab und blieb auch steif und fest bei dieser Behauptung, bis UN-Ermittler fast auf den Tag genau vier Jahre nach dem Verbrechen die sterblichen Überreste von achtundvierzig der Männer von Ahatovići in einem Massengrab in Sokolina fanden. Das jüngste Opfer war siebzehn, das älteste vierundsechzig. Dreizehn Opfer stammten aus der gleichen Familie. Danach versteiften sich die bosnischen Serben auf die Version, die Muslime selber hätten das Massaker verübt.
Mujo und seine drei Begleiter waren in schlechter Verfassung. Das medi zinische Zentrum in Tuzla lag in Reichweite der serbischen Artillerie und wurde öfters beschossen, und so wurden die Flüchtlinge stattdessen in einer zum Spital um funktionierten Grundschule gepflegt. Es fehlte in der Stadt an fast allem, an Nahrungs mitteln, an Waffen und an Medikamenten, und der Heilungsprozess dauerte deutlich länger als sonst.
In Tuzla erfuhren die vier schliesslich auch, dass es noch einen achten Überlebenden gegeben hatte. Er war stundenlang bewusstlos gewesen und danach herumgeirrt, bis ihn zu seinem Glück eine bosniakische Patrouille aufgegriffen hatte.
Nach und nach erholten sie sich. Drei der vier, darunter auch Begić, hatten einen immensen Hass auf alle Serben entwickelt. Für sie war es schwierig im toleranten Tuzla, in dem Moslems, Kroaten und Serben gemeinsam die Ver teidigung organisierten und in dem als einzige bosnische Stadt die natio nalisti schen Kräfte nie die Oberhand erlangten. Nur Mujo, der beide Brüder und die meisten seiner Jugendfreunde verloren hatte, schien trotzdem noch einigermassen differen ziert zu denken und versuchte, beschwichtigend auf die anderen einzuwirken. Aber auch er brannte darauf, zurückzuschlagen.
Daraus wurde jedoch zunächst nichts. In Mujos verletztem Bein bildete sich Wundbrand, und ohne antiseptische Medikamente verlor er es beinahe. Wie durch ein Wunder erholte er sich aber schliesslich wieder, und Ende 1992 war er gerade rechtzeitig für die serbische Winteroffensive wieder fit. Nachdem er bei der Verteidigung der Stadt durch seine an Todessehnsucht grenzende Tapferkeit aufgefallen war, wurde er aufgefordert, sich ‹freiwillig› für eine neue Spezialtruppe zu melden, deren Aufgabe es war, in kleinen Gruppen gegnerische Heckenschützen zu jagen. Dabei zeichnete sich der von ihm geführte Trupp durch einen solchen Erfolg aus, dass er in eingeweihten Kreisen rasch zu einer Legende wurde und bis Kriegsende in verschiedenen von der bosnischen Regierung gehaltenen Städten, darunter Sarajevo, zum Einsatz kam. Aus dieser Zeit stammte auch sein Spitzname Sablast .
Begić selbst hatte sich nach ein paar Monaten zwar körperlich wieder erholt, aber er war ein psychisches Wrack. Die anderen Überlebenden aus Ahatovići versuchten sich um ihn zu kümmern, aber sein Zustand verschlechterte sich laufend. Erst nach dem Krieg traf er seine Frau wieder und musste ihr dabei die Nachricht vom Tod ihrer Söhne und ihres Bruders überbringen. Kurz darauf schnitt sie sich in der Badewanne die Pulsadern auf. Mit dem Selbstmord seiner Frau verlor Begić den letzten Halt, aber im Bosnien der Nachkriegsjahre war weder psychologische noch psychiatrische Hilfe verfügbar, und so verbrachte er die ersten Jahre trotz seines Zustandes ohne weitere Betreuung in einer Anstalt. Schliesslich arrangierte ein österreichisches Hilfswerk die Behandlung einer kleinen Zahl bosnischer Traumaopfer in Österreich. Mujo Hasanović, der davon gehört hatte und dessen Wort durch seinen Status als Kriegsheld etwas galt in Tuzla, brachte den Bürgermeister dazu, Begić auf
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