Sonnenfinsternis: Kriminalroman
prallte wirkungslos an ihm ab. Eifrig antwortete er: «Vielleicht, wieso nicht? Und Österreich, Bayern und die anderen konservativen Regionen Grossgermaniens. Das Elsass. Vielleicht sogar Lothringen. Und irgend wann können sich uns selbst die linken Regionen nicht mehr in den Weg stellen. Vielleicht dauert es zehn, zwanzig oder auch dreissig Jahre, aber der Sieg ist mit unseren Methoden unausweichlich.»
«Was ist mit Norditalien? Die sind doch bereits so schön ausländer feind lich dort unten, da habt ihr sicher leichtes Spiel.»
Meine Frage war ironisch gemeint, aber er beantwortete sie mit tödlichem Ernst. «Nicht nötig. Die alten Neofaschisten sind bereits ein etablierter Teil der Macht. Die italienische Regierung wird sich mit uns verbünden und uns unterstützen, da bin ich sicher. Mit genügend Zeit können wir eine neue Achse bilden, diesmal ohne weissen Fleck in der Mitte. Und dann kommt der Rest Europas.»
Fassung s los starrte ich ihn an. Seinen Ambitionen waren so monströs, dass es mir schier den Atem raubte. Wir schwiegen.
Für eine Weile herrschte Totenstille. Kein Knacken der Holzbalken. Kein testosterongetriebenes Gegröle der Glatzköpfe vor der Tür. Keine Musik, kein Verkehrslärm, kein Triebwerksgrollen vorbeifliegender Jets, nichts ausser dem leisen Rauschen des durch die Bäume strei chen den Herbstwindes vor dem Fenster.
Irgendwann seufzte Rappolder plötzlich laut. Dann bleckte er erneut die Zähne wie ein Raubtier und fragte: «Wo sind die Abschriften?»
«Daran kann ich mich leider nicht mehr erinnern», sagte ich be dauernd.
«Ach, wirklich?» Mit grüblerischer Miene ging er zum einzigen Fenster des Raums hinüber, das ich aus den Augenwinkeln gerade noch halb sehen konnte, und öffnete es. Sofort strömte ein Schwall eiskalter Luft herein, der meinen ganzen Körper mit Gänsehaut überzog. «Vielleicht hilft ein wenig frische Luft deinem Gedächtnis auf die Sprünge?»
«Vergiss es», sagte ich mit klappernden Zähnen. «Sobald ich dir das sage, ist mein Leben keinen Pfifferling mehr wert.»
Plötzlich änderte er seine Taktik. «Und wenn ich dir anbiete, dich uns anzuschliessen? Wir könnten ein cleveres Kerlchen wie dich brauchen.»
«Sicher, wo soll ich unterschreiben? Aber schliess zuerst das Scheissfenster!»
Er grinste. «Das ist wohl ein Spiel für dich, was? Schau dich an, du traurige Gestalt: N ackt wie Adam und an einen Pfahl gefesselt wie ein Stück Vieh. Bist du wirklich zum Witze reissen aufgelegt?»
«Eigentlich nicht, nein.»
«Also, wie wär ‘ s? Machst du bei uns mit?»
«Nein. Niemals.»
Er nickte nachdenklich und sagte: «Hatte ich auch nicht gedacht. Und sogar, wenn du Ja gesagt hättest: Wir könnten dir niemals vertrauen, du kleiner Lesbenfreund. Also, nochmals: Wo sind die Abschriften ?»
«Fick dich! Das ist meine Lebensversicherung. Solange ihr das nicht wisst , könnt ihr mich nicht umlegen.»
«Aber dafür können wir dein restliches Leben sehr ungemütlich machen.»
«Na wenn schon! Nur zu! Aus mir kriegt ihr nie was raus !» Mein kleiner Ausbruch war kindisch und wohl das Resultat meiner fort schrei ten den physischen und psychischen Erschöpfung. Wir wussten beide, dass jeder Mensch seine Grenzen hatte. Das Gefühl der Hilflosigkeit war besonders schlimm . Ich konnte plötzlich nachvollziehen, wie sich Lucović in der alten Ziegelfabrik gefühlt haben musste. Aber ich versuchte immer noch, Zeit zu schinden.
Rappolder schüttelte traurig den Kopf im Stil eines Vaters, der sein Kind bestrafen muss, obwohl es ihm fast das Herz bricht. Die Welt war seine Bühne, er selbst sein eigener Lieblingsschauspieler. Schliesslich schien er sich mit dem Unvermeidlichen – was immer es war – abge fun den zu haben und starrte mich längere Zeit wortlos an. Seine kalten Fisch augen schienen irgendwie leblos, aber sie enthielten auch das Ver sprechen unsäglicher Schrecken gleich unter der Oberfläche. So leise, dass ich ihn kaum verstand, sagte er: «Ich habe dich wirklich unter schätzt, van Gogh.» Dann wurde seine Stimme laut . «Aber du mich auch. Und darum zum letzten Mal: Wo sind diese Abschriften? » Er packte mich mit beiden Händen am Hals und drückte langsam zu. « Wo? »
«Fick… dich!» Ich spürte, wie mir rasch schwarz vor Augen wurde . Aus der Ferne hörte ich ein eigentümliches Röcheln. Überrascht stellte ich nach einer Sekunde fest, dass es von mir kam.
Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, liess er los. «Na gut», sagte
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