Sonnenfinsternis: Kriminalroman
Stunden später, kurz vor sieben Uhr morgens, stellte ich meinen Colt auf dem Parkplatz einer kleinen Kirche ab, etwa zwei hun dert Meter von Rappolders Appartementblock entfernt, und ging den Rest zu Fuss. Eine alte Angewohnheit.
Rappolder wohnte am östlichen Stadtrand von Opfikon, einer der vielen Kleinstädte in der nördlichen Agglomeration von Zürich. Sie befand sich direkt in der Anflugschneise des Flughafens, und bereits um diese Zeit war der Lärm der über mir zur Landung ansetzenden Flieger ohrenbetäubend. Die Häuser in dieser Gegend mussten wirklich gut isoliert sein, damit an Schlaf überhaupt zu denken war .
Ich überlegte, ob ich meine Pistole mitnehmen sollte oder nicht, und entschied mich dann dagegen. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass ich gleich beim ersten Gespräch auf ihn schiessen musste, und wenn er sie bemerkte, war meine Tarnung aufgeflogen. Also ab ins Handschuh fach damit .
Als Nächstes rief ich mit unterdrückter Nummer Rappolders Fest netz anschluss an . Neumann hatte ihn mir gegeben . Nach dem vierten Klingeln hörte ich ein Knacken in der Leitung , dann kam das Freizeichen . Also hatte jemand a bge nom men und dann gleich wieder auf ge legt.
Rappolder wohnte im mittleren Block einer Überbauung aus drei gleichartigen Wohnkomplexen , die in Form eine r grossen U angeordnet waren . Alle drei sahen neu und seelenlos aus: s echs Stockwerke Glas und roter Verputz unter einem modernen Flachdach. Anonymität und Ausbaustandard waren es wohl auch, die den reichen Industriellensohn Rappolder dazu bewogen hatten, ausgerechnet hierher zu ziehen. Durch die Tiefgarage und das Treppenhaus kam ich ungesehen bis vor seine Wohnungstür. Ich klingelte.
Etwas rumpelte im Inneren der Wohnung und jemand fluchte laut. Dann fragte eine heisere Männerstimme verärgert durch die Tür : «Wer zum Teufel ist das um diese Zeit?»
Statt zu antworten, fragte ich zurück: «Herr Rappolder»?
«Wer sonst? Und wer sind sie?»
«Magro», antwortete ich, «vom Tagi .» Der Tages-Anzeiger war eine der auflagenstärksten Zeitungen Zürichs. Ein Freund Mina s , der dort arbeitete, hatte mir vor einiger Zeit einen Presseausweis besorgt. Das war vielleicht nicht ganz sauber, konnte aber ganz nützlich sein. Wie jetzt zum Beispiel.
Die Aussicht, mit der Presse zu sprechen, schien Rappolder jedoch nicht gerade freundlicher zu stimmen. «Und was wollen Sie von mir?»
Ich hörte ein Kratzen auf der anderen Seite der Tür und vermutete, dass Rappolder durch das Guckloch einen Blick auf mich zu erhaschen versuchte. Allerdings erfolglos. Ich hatte vor dem Klingeln gewohn heits mässig meinen Finger auf den kleinen Spion gelegt. Dies zwang jemand auf der anderen Seite dazu, die Tür zu öffnen, um mich zu sehen.
Drinnen wurde die Sicherheitskette vorgehängt, dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit und ich konnte Rappolders Gesicht sehen. Wie auf dem Foto hatte er kantige Z üge und eine Vollg latze. Als Erstes fielen mir aber seine Augen auf. Sie waren stahlblau und irgendwie leer. Er musterte mich von oben bis unten und forderte dann barsch: «Zeigen Sie mir Ihren Presseausweis!»
Er nahm den dargebotenen Ausweis entgegen und betrachtete ihn einige Sekunden lang schweigend von allen Seiten. Dann gab er ihn zurück und fragte: «Und was will die Presse so früh von mir?»
Ich lächelte gewinnend und erwiderte: «Können wir vielleicht drinnen reden?»
Mit ausdrucksloser Miene fragte er: «Wozu?»
«Es könnte einen Moment dauern.»
«Na und?»
«Ich glaube, der Inhalt unseres Gespräches ist nicht unbedingt für Ihre Nachbarn bestimmt.»
«Das werde ich selbst beurteilen.»
«Na schön. Also, Herr Rappolder, wir arbeiten an einer grossen Story über den Rechtsextremismus in der Schweiz. Im Zuge meiner Recherchen ist mehrfach Ihr Name gefallen, und ich möchte Ihnen die Gelegenheit für eine Stellungnahme geben, bevor der Artikel in Druck geht.»
Er schlug mir wortlos die Tür vor der Nase zu. Ein paar Sekunden später öffnete sie sich wieder, diesmal ganz , und Rappolder sagte mit plötzlicher Freundlichkeit: «Okay, kommen Sie rein!»
Er war ungefähr so gross wie ich. Unter seinem Lonsdale-Kapuzen pul lover und den Trainerhosen zeichneten sich breite Schultern und gut trai nier te Muskeln ab. Er führte mich ins Wohnzimmer, zeigte auf einen haupt sächlich aus Stahl röhr chen bestehenden Designersessel und nahm selber auf einem teuer wirkenden Leder sofa Platz. Es war sinnigerweise braun.
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