Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
singen konnte – er konnte vielmehr auch Gegenstände mit Klängen bewegen. Am Tage übte er das mit Blättern. Er war noch nicht sehr gut darin.
Er konnte leichte Dinge bewegen, nur ein wenig. Aber ein Eiszapfen ...
Er beschoss ihn mit einem Klanghagel, sein ganzer Kör per war angespannt, die Augen zugekniffen. Schweiß kribbelte ihm im Fell. Mit dem inneren Auge sah er, wie der Fuß des Eiszapfens wackelte. Stoßweise holte er Luft, überprüfte, wo die Eule war.
Sie war noch weiter nach unten gehüpft. Schatten wusste, dass unter dem nächsten Ast seine Mutter mit Frieda und Chinook hing. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Mit aller Kraft peitschte er auf den Fuß des Eiszapfens ein. Dieser schwankte. Schatten hörte ein schwaches Knacken, aber noch hielt der Eiszapfen fest.
Er versuchte zu Atem zu kommen. Vielleicht noch einmal. Aber bevor er Marina bremsen konnte, eilte sie mit voller Geschwindigkeit den Ast entlang und auf den Eiszapfen zu. Unter ihren Krallen bröckelte die Rinde. Schatten sah, wie die Eule hochschaute, wie ihre Blicke sie wütend aufspießten. Sie breitete die Flügel aus und kreischte im gleichen Augenblick, als Marina sich gegen den Eiszapfen warf.
Dieser fiel, legte sich auf die Seite und schmetterte voll gegen den Kopf der Eule. Der Riesenvogel schwankte einen Augenblick und stürzte dann bewusstlos auf den Boden des Waldes, verfangen in den eigenen Flügeln.
„Losfliegen“, ertönte Friedas Ruf von unten und sofort waren sie alle in der Luft. Mit Marina neben sich flog Schatten hinter den anderen her, mit rudernden Flügeln jagten sie durch den Wald, streiften zurückfedernde Zweige und ließen eine Spur von Schneestaub und Dunst hinter sich. Er wusste, es würde nicht lange dauern, bevor die anderen Eulen kamen, um nachzusehen.
Plötzlich brach er aus der Deckung der Bäume und schwebte über offenem Grasland. Er hatte Angst – sie waren hier draußen so ungeschützt, das Gewicht des ganzen freien Himmels lastete auf ihnen. Instinktiv ließ er sich niedriger gleiten. Fast streiften die Flügel die hohen Grashalme. Er riskierte einen Blick zurück. Am Himmel kreiste ein halbes Dutzend Eulen, aber ihre Schreie klangen weit weg. Vielleicht hatten sie sie doch noch nicht entdeckt.
Eintausend weitere Flügelschläge lang flogen sie alle ohne zu sprechen, waren nur darauf aus, sich noch mehr von den Eulen zu entfernen.
Er blickte Marina an. „Danke für deine Hilfe.“ „Gern geschehen.“
Nach einem Weilchen fügte er hinzu: „Weißt du, ich hätte es auch allein geschafft.“
Sie betrachtete ihn mit dem freundlich amüsierten Ausdruck, den sie nur annahm, um ihn zu ärgern. „Natürlich“, sagte sie.
„Ich war fast so weit!“
„Wir hatten nicht viel Zeit, Schatten.“
Er wusste, dass sie Recht hatte, aber er war noch wütend auf sich selber, dass er versagt hatte. „Nun, versuch du mal, einen Eiszapfen nur mit Klang zum Fallen zu bringen!“
Er wusste, sie konnte das nicht, deshalb sagte er es.
Zuerst hatte er gedacht, alle Fledermäuse könnten Gegenstände mit Tönen bewegen. Aber das stimmte nicht, wie ihm Frieda erklärt hatte. Es war eine besondere Gabe, eine seltene Fähigkeit. Sie selbst konnte gerade mal einen Grashalm zum Flattern bringen und auch das nicht aus größerer Entfernung. Trotzdem, sein letzter Versuch war nicht gerade eindrucksvoll gewesen. Er war fast in Ohnmacht gefallen, als er sich bemühte den blöden Eiszapfen abzubrechen.
„Schau her“, sagte Marina und drehte ihre Ohren, als ob sie das Thema beenden wollte. „Du hast all die fantastischen Tricks mit Klängen. Ich mache nur die langweiligen Dinge. Wie zum Beispiel sicherstellen, dass der Eiszapfen fällt und die Eule am Kopf trifft.“ „Und wer hat als Erster den Eiszapfen bemerkt?“
„Wer hat sich bewegt und uns erst in die Bredouille gebracht?“
Schatten hielt die Luft an und suchte nach einer Antwort, da sah er, wie Frieda in einem Bogen zu ihnen zurückkam.
„Das war geistesgegenwärtig“, sagte die Älteste der Silberflügel. „Gut gemacht, ihr zwei.“
„Ohne sie hätte ich es nicht geschafft“, sagte Schatten großzügig.
„Oh, es war seine Idee“, gurrte Marina. „Ich habe nur geholfen.“
Frieda lächelte schwach. „So bescheiden alle beide. Es ist rührend.“
Und sie schwang sich wieder an die Spitze zurück. Schatten spürte, wie ihn jemand am Flügel anrempelte, wandte sich zur Seite und sah Chinook, der sich genau zwischen ihn und Marina drängte.
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