Sonnenscheinpferd
Fußnägel schnitten und Hühneraugen ausmerzten. Für sie war sie ein Idol, und sie kannten viele Geschichten darüber, wie Ragnhild kleine Schwestern und Brüder mit übersinnlichen Diagnosen und akribischer Therapie gerettet hatte. Zudem hatte das Idol göttliche Ansichten, und mit ihm konnte man über alles reden, wie sie andächtig kundtaten.
Zwei von Mummis Freunden sind HIV-infiziert. Ragnhild unterhält sich klug, aber unterkühlt wie ein Gletscherbis ins kleinste medizinische und menschliche Detail mit ihnen über diesen Unsegen (wie sie das Virus nennt), über die neuesten Forschungen und Medikamente. Auf diese Weise reduziert sie den garstigen Drachen, mit dem die Jungen zu kämpfen haben, auf eine harmlose, kümmerliche Echse.
Mummis Freunde machen sich manchmal einen vergnügten Abend im Grünen Salon (der nicht mehr grün, sondern karminrot ist). Dann kann es vorkommen, dass sich Mummi in Ragnhilds schwarzes Crêpekleid zwängt und das Tanzbein schwingt – ein geborener Tänzer, dieses Kind, das dauernd hinfiel –, verwandelt in ein geheimnisvolles und gefährliches Wesen, das weder gehemmt noch nachgiebig ist wie er selber, wenn er nicht tanzt.
In diesem Mummi im Kleid und mit Lippenstift erkenne ich meinen kleinen Bruder, schluchzend im Bett:
Gibt es dann nie wieder Brei?
Ich sehe ihn halb nackt auf der Arztliege mit einem roten Kugelschreiberherzen auf dem Brustkorb und mich mit einem gezückten Messer über ihn gebeugt:
Soll ich dir dein Mistherz rausschneiden, du armes kleines Luder?
Ragnhild hingegen sitzt auf dem Sofa zwischen den beiden Top-Transvestiten der Stadt und sieht Mummi beim Tanz zu, als befände sie sich auf einem Abschlussball in der Tanzschule. Ich beobachte sie und frage mich, ob es nicht natürlicher wäre, wenn sie es sich zu Herzen nähme, dass ihr erwachsener Sohn in einem Kleid (noch dazu ihrem eigenen) die Schwulen im Grünen Salon anmacht. Nein, genau wie immer sitzt sie einfach da und sieht durch alles und alle hindurch.
Mummi steigert sich in noch schnelleres Hüftschwenken und umnebelten Blick hinein (vielleicht tanzt ja das Hausmedium durch ihn), und irgendjemand aus der Gruppe reicht Ragnhild die Mandoline. Sie spielt
Plaisir d’amour
, und die Schritte ihres Kindes werden so aufreizend, dass die Freunde kaum noch zu halten sind.
In mir beginnt der Zorn derart zu kochen, dass ich mich in eine Dampfmaschine verwandele, und der Dampf zischt mir zu Nase und Ohren heraus. Was kann ich anderes tun, als mich überaus sanft zurückzuziehen, obwohl ich Gefahr laufe zu vergessen, Ragnhild ins Bett zu bugsieren, bevor das Spiel noch wilder wird.
Ich begebe mich in meine alte Zufluchtsstätte, die Waschküche, setze mich auf den Küchenhocker und fülle den Raum mit innerem Dampf, den ich anschließend hinauslasse, indem ich Fenster und Türen öffne, sowohl die zum Flur als auch die zu meinem Zimmer, zur Katakombe. Ich darf diese giftigen Dämpfe nicht einschließen, sonst ersticke ich. Vor allem muss ich den Gedanken abziehen lassen, dass Ragnhild GE ist, der Große Exterminator; dass ich sie umbringen könnte, um Mummi und mich zu schützen, obwohl wir angeblich groß sind, und dass sie sich rasch der EG nähert, der Eiskalten Gruft.
Nicht Ragnhild, nicht Mummi, niemanden will ich dabeihaben, wenn es an die Neugestaltung meines Schimmelzimmers geht. Das werde ich bis zum allerkleinsten Riss in der Wand selber organisieren und selber durchführen. Mich juckt es in den Fingern, daraus das schönste Boudoir in der Stadt zu machen – wahrscheinlich mit rötlichem Parkett. Auch wenn ich sündigen und etwas Seltenes aus den tropischen Regenwäldern nehmen müsste. Dazu wird ein fernöstlicher Teppich für das Regenwaldparkett gekauft, handgewebt aus Seide oder Wolle, hoffentlich nicht mit Kinderfingern, und Mummi darf mir dabei helfen, ihn auszwählen.
Wer weiß, vielleicht werde ich schließlich in diesem Zimmer einmal etwas über das Glück lesen, während ich es am eigenen Leib erfahre; vielleicht mache ich ein Musikzimmer daraus, mit einer Bang & Olufsen-Anlage und einem neuenRiesensofa. Dort könnte ich mir mit dem Liebsten traurige Messen anhören und richtige Requiems, wie gut würde uns das zu Gesicht stehen, während sich die ungesagten Worte zwischen Küsschen der alten Art und erwachsenen Küssen vorwärtswinden.
Ich versetze meinen grauhaarigen Liebsten in das schönste Zimmer in der Stadt und uns beide auf ein sonderangefertigtes Luxussofa, das wir
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