Sonnenscheinpferd
Existenzsprung ins Dunkel, an Kierkegaard, über den ich im
Familienjournal
gelesen hatte, und ich sagte das Gedicht halblaut auf.
Bald trennt uns nichts
als hellgrüne Lava
Schauplatz tanzender Strahlen an Farn und Halm
deine selige Hand wird mich geleiten
zu beginnenden Schatten
und nichts
wird ferner deine Hand und mich trennen.
An einem Maimorgen sollte es sein. Keines anderen Monats Morgen kam in Frage. Das Leben hatte gezaudert, sich verkorkst, war beleidigt abgezogen und entweder unerträglich langsam vergangen oder irgendwie vorwärtsgezuckelt – und jetzt ging es endlich los und machte regelrechte Fortschritte, und was noch mehr war, ein Traum war in Erfüllung gegangen. Ein Traum, es gab keine anderen.
In Fljótshlíð warteten die Liebkosungen, etwas, was sie schon vor so langer Zeit abgeschrieben hatte, dass sie sich kaum erinnern konnte, wann. Sie hatte sich keine Hoffnungen auf weitere Zärtlichkeiten im Leben gemacht, und angesichts all der Sterbenden und der Zimmer in der Sjafnargata hatte sie auch ganz andere Dinge im Kopf gehabt.
Andere Dinge im Kopf, als das geschah, was undenkbar war. Das Äquivalent eines gestorbenen Liebhabers kehrte in lebendiger Form zurück. Der, dem sie so heftig nachgetrauert hatte, wie es ihre Kräfte neben anderen Aufgaben zuließen. Der, den sie vermisst hatte, als sie die Kinder eines anderen unter dem Herzen trug, und wenn sie einkaufte, wenn sie leise mit Schwerkranken und Sterbenden sprach, während sie spülte.
Als Unnur und Ása klein waren, träumte sie, er wäre der Vater und sie würden an glänzenden Flüssen und gläsernen Seen zu viert spazieren gehen. Meistens im Frühling und im Herbst.
Unnur und Ása wuchsen in doppelter Leere heran, zum einen in der Trauer der Mutter und zum anderen, weil derjenige, dem sie nachtrauerte, nicht der Vater ihrer Kinder war. Und auch nicht der Vater anderer Kinder. Sie wagte nicht daran zu denken, ob ihr das ein Trost sein könnte. Das wäre nicht schön von ihr.
Sie hatte sich selbst im Verdacht, Krankenpflege gewählt zu haben, mit Schwerpunkt auf Betreuung von Sterbenden, um über den Verlust des Liebsten hinwegzukommen, über die Sehnsucht nach richtigen Liebkosungen und hundertprozentiger Nähe. Denn angesichts der Todesnähe anderer vergaß sie am ehesten, die Hauptgedanken zu denken: Mir wäre es gleichgültig, wenn ich nicht existierte. Nicht existieren zu dürfen, das wäre besser gewesen.
Als er zurückgekehrt war, mit grauem Haar und sonnenbraunen Händen, begriff sie, dass Bitterkeit der Grundton im Dasein ist. Viel stärker als Sehnsucht oder Liebe. Bitterkeit darüber, dass einem etwas genommen wurde. (Alles? Das, was eine Rolle spielt?) Und sie begriff, dass sie sich alle Mühe geben musste, um die Liebe zu entwickeln, denn die war nach der langen Zeit nebelhaft – obwohl sie sich etwas anderes eingebildet hatte.
Sie betrachtete ihr dreiundvierzigjähriges Gesicht im Rückspiegel, und siehe, es war strahlend müde. Eine schwierige Abendwache, obwohl niemand ganz gestorben war. Sie war erst um halb zwei ins Bett gekommen und um fünf Uhr aufgewacht, um im Wettlauf mit dem Tag losfahren zu können und um halb acht in Fljótshlíð einzutreffen, wo der Mann endlich wartete, nach zwei halben Menschenleben, bei kunterbuntem Gesang von Maivögeln unter keiner Wolke am Himmel.
Gern hätte sie ihr ausgeschlafenes Gesicht gezeigt. Aber das müde Gesicht war ihr wahres und Schlafmangel ein Dauerzustand, seit sie als Krankenschwester arbeitete.
Sie hielt es aus, indem sie sich weismachte, nicht mehr als vier Stunden Schlaf zu benötigen. Das stimmte nicht. In jüngeren Jahren vertrug sie den Schlafmangel allerdings gut. Jetzt, nachdem sie endlich mit den Nachtwachen aufgehört hatte, überfiel sie gelegentlich aus heiterem Himmel Schlaf, und zwar so dringend, dass sie die schwarzen Gardinen zuzog und zwölf Stunden, vierzehn Stunden an einem Stück schlief. Im Schlaf dankte sie Gott dafür, keinen Mann zu haben, der fragte: Wo ist das Telefonbuch hin?, sie dankte Gott dafür, dass ihre Töchter aus dem Haus waren; sie dankte Gott dafür, dass Ragnhild sich nicht in ihre Schlafgewohnheiten einmischte. Wenn sie nach zwölf Stunden Schlaf erwachte, war sie im Spiegel fünf Jahre jünger. Einen Tag später hatten sich die Jahre wieder eingestellt.
Der grauhaarige Mann in Fljótshlíð hatte vielleicht schon den ersten Kaffee gekocht, denn er stand nie später auf als sieben, häufig sogar schon
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