Sonnenscheinpferd
eingeborene Zwillinge handelte, statt zu sagen eineiige.
Ich war komplett verwirrt. Es fehlte nicht viel, und ich hätte dummes Zeug geredet und womöglich verraten, zu welch spätem Zeitpunkt ihres Lebens ich Nellí noch besucht hatte und was ich dann sah, als ich mit der veilchenblauen Vase im Schulranzen in die Grettisgata kam. Am liebstenhätte ich geschwiegen, aber die Frau war nicht sonderlich gesprächig, und schließlich obliegt es ja demjenigen, der sich mit einem angeblichen Anliegen selber einlädt, das Gespräch in Gang zu halten.
Der große Wandteppich rettete mich, ein halb abstraktes Meeresmotiv in Blau und Grün, mit durchgängigen glänzenden Fäden, die an einigen Stellen heraushingen. Ich sagte, noch nie hätte ich eine solche Webarbeit gesehen. Es stellte sich heraus, dass die Frau Handarbeitslehrerin und dass der Teppich ganz allein ihr Werk war.
Sie fügte hinzu: Mama hatte so geschickte Hände. Sie hat mir auch das Stricken beigebracht, bevor ich weggeholt wurde.
Dass sie das so direkt ansprach, ohne dass sich der Ton ihrer Stimme veränderte: bevor ich weggeholt wurde.
Es hätte mir eigentlich helfen müssen, wie gefasst und gelassen sie war, doch ich hatte erhebliche Probleme damit, zur Sache zu kommen. Ich schimpfte innerlich mit mir, wie ich es mir als Kind beigebracht hatte (das Ausschimpfen musste ich selber besorgen, andere taten es nicht). Warum ich mich eigentlich nicht normal benehmen konnte und das vorbringen, was ich sagen wollte, wo sie doch so ruhig war, diese Frau, die als Kind von der bitterarmen Mutter weggeholt worden war, mit Bett und allem.
Die Worte kamen zunächst stockend und mit Pausen, und dann in unterschiedlich langen Redeschwällen. Meine Wangen wurden glühend heiß, denn ich musste eine Staumauer einreißen. Wie in aller Welt mag ich Dóra Tigrid vorgekommen sein, während die Geschichte aus mir herausbrach?
Dass ich schon lange herausgefunden hätte, wer sie war; dass ich immer an sie gedacht hatte; dass ich mich danach gesehnt hatte, ihr von dem Besuch bei ihrer Mutter zu erzählen.
Die Frau sah mich so ungläubig an, als sei sie überzeugt, ich würde mir das aus den Fingern saugen, aber auf einmal fragte sie: Wie war ihr Zustand?
Gar kein Zustand – und weitere Worte brachen sich Bahn. Dass ihre Mutter mir die Wange gestreichelt und mir Pfannkuchen angeboten hatte, die noch warm waren, dass das Bild der Tochter bei Nellí auf dem Tisch gestanden hatte, jenes dort, im gleichen Rahmen; dass ich das Mädchen auf dem Bild darum beneidet hatte, eine Mutter zu haben, die sich auf doppelte Arbeit verstand – vor der man sich besonders hüten musste, wenn man einen eigenen Haushalt hatte, indem man zuerst die Tische wischte und danach erst den Fußboden, denn doppelte Arbeit war eine Hauptsünde.
Die Frau nickte zustimmend und lächelte, was ich so auslegte, dass Nellí sie ebenfalls vor doppelter Arbeit gewarnt hatte, die zu den Hauptsünden gehörte, wenn man einen Haushalt führte.
Dass ihre Mutter gleich gesehen hatte, wie käsig und dürr ich war, keineswegs so wohl genährt wie ihr Mädchen mit den Zöpfen; dass bei mir zu Hause damals alles etwas seltsam war, obwohl ich das noch nicht wusste, und dass mir kommentarlos die Zöpfe abgeschnitten wurden, nachdem die deutsche Haushaltshilfe gegangen war. Niemand mehr da zum Flechten und Haare wie der Struwwelpeter.
Die Frau sagte nichts, aber sie schien mich zu bedauern. Ich habe es immer als angenehm empfunden, von unbekannten Menschen bemitleidet zu werden. Das ist echt und geht schnell vorbei. Ich genoss es schweigend, solange es andauerte.
Durftest du deine Zöpfe bei den neuen Leuten behalten?, fragte ich dann und dachte an all die Male, die ich das Zopfgebet gesprochen hatte:
Lieber Gott, gib, dass meine Dór ihre Zöpfe hat behalten dürfen, als sie weggeholt wurde
.
Ja, sagte die Frau, das durfte ich, aber sie waren nicht beliebt.
Dann erklärte sie: Ich wollte meine Pflegemutter nicht Mama nennen. Sie war nicht meine Mutter, und ich begriff nicht, weshalb ich sie Mama nennen sollte. Nachdem ich mich widerborstig viele Monate lang geweigert hatte, bekam ich eine Tracht Prügel. Danach habe ich alle möglichen Auswege gesucht und sie weder mit dem Vornamen noch mit Mama angeredet.
Ich habe meine Mutter immer Ragnhild genannt und meinen Vater Harald. Mein Bruder Mummi hat das auch getan. Und später nannten wir sie unter uns Das Ehepaar.
Tatsächlich, fragte die Frau, als hätte ich wieder
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