Sonnenscheinpferd
gefahren, am Freitag, statt nach Hafnarfjörðurund anschließend ins Krankenhaus, dann wäre mir dieser Schlag erspart geblieben. Wir wären mit deinem Auto gefahren. Du wärst natürlich gefahren. Das gehörte zu den Dingen, auf die ich mich besonders freute. Im Auto neben dir zu sitzen und die neuen Hände am Steuer zu sehen, sonnenbraun, Ringfinger und kleiner Finger ein wenig gekrümmt.
Dóra in Hafnarfjörður war nicht wenig verwundert, als ich anrief, das konnte sie kaum verbergen. Aber als sie merkte, wie ich herumdruckste, um mein Anliegen hervorzubringen, versuchte sie sofort, mir die Sache etwas leichter zu machen. Sie war bestimmt ein guter Mensch. Es tat aber gar nichts zur Sache, ob diese Person gut war, ich hatte Angst davor, sie zu treffen, weil sie nur in meiner Vorstellung existiert hatte.
Ich hatte ebenfalls Angst, mich zu verraten. Diese Frau durfte nicht wissen, dass ich am Tag bevor Nellí starb, in der Grettisgata gewesen war; dass sie gesagt hatte:
Das ist vorbei
und dabei gelächelt; dass alles bei ihr so tipptopp in Ordnung gewesen war, bevor sie zur Tat schritt; dass ich am folgenden Tag doch in die Grettisgata gegangen war, obwohl Nellí sich Besuche verbeten hatte; dass ich es war, die sie dann fand.
Unglaublich, dass die Freundin meiner Kindheit ausgerechnet in meine Traumlava gezogen war, die mir vorschwebte, seitdem ich sie als Kind auf einem Sonntagsausflug gesehen hatte. Direkt bei Hellisgerði, dem Zauberpark mit einem Affen und Pippi-Langstrumpf-Häusern drum herum. Damals hielt ich die ganze Zeit über Ausschau nach Pippis Pferd, das ich Sonnenscheinpferd nannte, obwohl es im Buch einen anderenNamen hatte. Dort wollte ich zu Hause sein. Aber es war Dór, die in eines von meinen kleinen Häusern mit grünem Dach einzog.
Als ich geparkt hatte, blieb ich noch eine Weile im Auto sitzen und betrachtete das Haus und die Lavasteine in der Gartenmauer und das hölzerne, mit Schnitzereien verzierte Tor. Alles war akkurat und der Garten so wunderbar gestriegelt, dass einem gleich Bewohner von der besonderen Spezies der Gärtnerzwerge einfallen konnten, die das ganze Jahr über nichts anderes taten als werkeln: anstreichen, die Bäume bis ins kleinste Gezweig perfekt stutzen und die Blumen dazu verlocken, sich in neuen und strahlenden Dimensionen zu öffnen.
An der schönen rotbraunen Haustür glänzte ein Kupferschild:
DÓRA, PAVEL, NELLÍ, SOFFÍA
TIGRID
Wie schön von Dór, ihr Kind Nellí zu taufen, nach der alleinstehenden und unglücklichen Frau. Das passte zu der Dór, die ich kannte. Dór, die sich an einem Ort voll übernatürlicher Wesen niederließ, am Traumort meiner Kindheit, Dór, die einen Mann aus meiner Traumstadt Prag heiratete und seinen tschechischen Namen tragen durfte, Tigrid. Dóra Tigrid, das war großartig.
Die Frau sah Nellí so ähnlich, dass ich sämtliche Manieren vergaß und mich an den Wohnzimmertisch setzte, bevor mir ein Platz angeboten wurde. Sie hatte das gleiche etwas länglicheGesicht wie Nellí, die gleichen hohen Wangenknochen und braunen Augen, und ihr feines lockiges Haar hatte wie bei Nellí einen Stich ins Rötliche. Sie sprach wie Nellí, in ihren Sätzen war die gleiche Melodie, die irgendwie in einem fragenden Ton endete, obwohl nach nichts gefragt wurde.
Es kam mir so vor, als würde ich diese Frau aus alter Zeit genau kennen – und nicht nur das. Auch ihr Wohnzimmer sah exakt so aus wie das in dem grünen Haus am Heringsfjord, wo ich Mutter und Tochter in einem neuen Leben zusammengeführt hatte. Dort gab es einen gewebten Wandteppich, handbestickte Kissen und einen Gummibaum, der bis zur Decke reichte. Ihr Bild mit den Zöpfen stand ebenfalls an seinem Platz auf einem polierten Schreibtisch, wie im grünen Haus. Irgendjemand war so aufmerksam gewesen, das Bild an sich zu nehmen und es weiterzuleiten. Die Polizei? Ein Verwandter?
Also konnte ich hoffen, dass sich auch meine andere Sorge als grundlos erweisen würde und dass die hellblaue Schachtel mit dem aufgesticken Namen ebenfalls den Weg zu dem Kind mit diesem Namen gefunden hatte. Aber wie sehr ich auch Ausschau hielt zwischen all den hübschen Nippes und der Steinesammlung und den Fotos von zwei kleinen Mädchen, die Nellí und Soffía sein mussten, die Schachtel befand sich nicht im Wohnzimmer. Die Mädchen konnten gut Zwillinge sein und waren ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Mir fiel das Wort eingeboren ein. Beinahe hätte ich gefragt, ob es sich um
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