Sonnensturm
geleert haben, bevor sie sich selbst erschöpften oder in
einem Krieg übereinander herfielen. Und dabei würden
diese zerstrittenen Wesen nur die Frist verkürzen, bis die
Entropie das Universum in den tödlichen Würgegriff
nahm.
Die Erstgeborenen hatten all das schon öfter
erlebt. Und aus diesem Grund mussten die Menschen aufgehalten
werden.
Ihre Handlung geschah nach bestem Gewissen und aus dem
edelsten Motiv, der langfristigen Bewahrung des Lebens im
Universum. Die Erstgeborenen würden sich sogar
zwingen zuzuschauen; das verlangte ihr Gewissen von ihnen. Doch
aus ihrer Sicht hatten sie keine Wahl. Sie hatten das auch schon
oft getan.
Die Erstgeborenen, Kinder eines leblosen Universums,
stellten das Leben über alles. Es war, als ob sie das
Universum als einen Tierpark betrachteten und sich selbst als
Wildhüter, die mit seiner Erhaltung beauftragt waren. Doch
manchmal mussten Wildhüter den Bestand auch begrenzen.
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MORGENSTERN
03:00 (Londoner Zeit)
Auf dem Mars, wie auch auf dem Mond und auf dem Schild, galt
offiziell die Houstonzeit. Aber man zählte die Sols, die
Marstage, um den Rhythmus des Lebens zu kennzeichnen.
Und als Helena Umfraville an diesem schicksalhaften Morgen
über den kalten Marsgrund fuhr, hatte sie eine Uhr dabei,
die eine andere Zeit anzeigte: die Universalzeit der Astronomen
– mittlere Greenwichzeit, eine Stunde hinter der Londoner
Ortszeit. Und als diese Anzeige auf zwei Uhr nachts zuging, kurz
vor dem prognostizierten Ausbruch des Sonnensturms, bremste sie
den Beagle ab, stieg durch die Andockschleuse in den
Raumanzug und entfernte sich vom Rover.
In dieser Region des Mars setzte bereits die
Morgendämmerung ein. Sie schaute zur aufgehenden Sonne
empor. Am Horizont intensivierte das Licht sich zu einem
rotstichigen Braun, und die aufsteigende Sonne war eine staubige
Scheibe, die durch die Entfernung blass wirkte. Der Rest des
Himmels war eine Kuppel aus Sternen.
Das war die Gesteinswüste, die für die
nördlichen Ebenen so charakteristisch war. Wieder einmal
stand sie auf neuem Marsboden – ein Boden, dem noch kein
Mensch mit einem Fußabdruck seinen Stempel aufgedrückt
hatte. Doch an diesem Morgen war der Mars nichts, verglichen mit
dem großen Schauspiel, das am Himmel sich entfalten
würde.
Auf dem Boden war kein einziges Licht zu sehen. Das Lager, das
sich um den Landeplatz der Aurora 1 duckte, war weit
entfernt und lag schon hinter dem nahen Horizont. Die Mannschaft
hatte einen Bunker im Marsboden ausgeschachtet, der sie
vielleicht – aber auch nur vielleicht – vor
den schlimmsten Auswirkungen des Sonnensturms schützte,
dessen Wucht durch die größere Entfernung des Mars von
der Sonne etwas gemildert würde. Helena musste sich bald
wieder in den Bunker flüchten, wenn sie diesen langen Sol zu
überleben hoffte.
Doch nun war sie weit weg von zu Hause und befand sich am Ende
der Welt. Sie glaubte, gar keine andere Wahl zu haben, als hier
zu sein.
In der Nacht hatte die Aurora-Besatzung merkwürdige Funksignale von der Peripherie des Planeten
empfangen; sie waren von den kleinen Nachrichtensatelliten
übertragen worden, die sie im Marsorbit stationiert hatten.
Die meisten Signale stammten von bloßen Funkfeuern –
aber es waren auch Stimmen darunter gewesen; stark akzentuierte,
kaum verständliche menschliche Stimmen: Stimmen, die um
Hilfe riefen. Das hatte sie genauso elektrisiert wie Robinson
Crusoe, als er einen menschlichen Fußabdruck am Strand
seiner Insel entdeckte. Plötzlich waren sie auf dem Mars
nicht mehr allein; es gab noch jemanden hier – und dieser
Jemand steckte in Schwierigkeiten.
Die Prioritäten waren klar. Auf diesem leeren Planeten
gab es niemanden außer der Aurora-Crew, die zu
helfen vermochte. Ein paar der georteten Stellen befanden sich
auf der entgegengesetzten Seite des Planeten; sie würden
warten müssen, bis eine voll ausgerüstete Expedition
mit der Marslandefähre der Aurora aufbrechen konnte.
Drei Punkte lagen jedoch im Umkreis von ein paar hundert
Kilometern um die Aurora und waren mit den Rovern zu
erreichen.
Also war die Mannschaft – einschließlich Helena
– mit den Rovern aufgebrochen und suchte die Quellen der
nahen Signale. Sie fuhren nachts und allein, was gegen alle
Sicherheitsvorschriften verstieß. Doch die Zeit war knapp;
sie hatten keine Wahl.
Und deshalb war Helena hier am Ende der Welt, nur in
Begleitung der leise
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