Sonnensturm
surrenden Anzugsventilatoren und schaute in
den weiten, kalten Marshimmel.
Die Sternbilder hatten für einen Beobachter auf dem Mars
natürlich das gleiche Aussehen wie für einen irdischen:
Die weite interplanetare Reise, die sie unternommen hatte, lag
zwar an der Grenze der menschlichen Fähigkeiten, aber sie
war nichts verglichen mit den tiefen Abgründen zwischen den
Sternen. Dennoch hatte sie das Sonnensystem durchquert, und
zumindest die Ansicht der Planeten war von hier aus verschieden.
Beim Blick über die linke Schulter sah sie Jupiter, einen
hellen Stern im diffusen Sternbild ›Opiuchus‹.
Jupiter war vom Mars aus in seiner ganzen Pracht zu sehen, und
ein paar Angehörige der Aurora-Crew behaupteten
sogar, dass sie seine Monde mit dem bloßen Auge zu sehen
vermochten. Inzwischen rühmte der Marshimmel sich dreier
Morgensterne: Merkur, Venus und Erde. Merkur, der sich den
Wassermann mit der Sonne teilte, ging in ihrem grellen Schein
fast unter. Die Venus stand etwas rechts von der Sonne in den
Fischen, nicht ganz so eindrucksvoll wie von der Erde aus
gesehen.
Und da war die Heimatwelt selbst, links von der Sonne im
Steinbock. Die Erde war unverkennbar, eine leuchtende Perle mit
einer blauen Nuance. Scharfe Augen vermochten den kleinen
bräunlichen Satelliten auszumachen, der mit seinem
Mutterplaneten reiste – der getreue Mond. Wie der Zufall es
an diesem Morgen wollte, standen alle inneren Welten auf
derselben Seite der Sonne wie der Mars – als ob die vier
Gesteinsplaneten sich Schutz suchend zusammendrängten.
Helena sprach einen leisen Befehl, und das Bild wurde vom
Helmvisier vergrößert. Nun sah sie Erde und Mond klar
und deutlich. An diesem Morgen waren sie zwei breite Sicheln in
identischen Phasen und der Sonne zugewandt, die sie gleich
verraten würde. Überall auf der Erde und dem Mond
würden die Leute bei ihren Verrichtungen innehalten und den
Blick gen Himmel richten – Milliarden Augenpaare
würden in dieselbe Richtung schauen und darauf warten, dass
die Show begann. Trotz der Dringlichkeit ihrer Rettungsmission
musste sie in solch einem Moment hier sein, unter dem komplexen
Marshimmel und mit dem Rest einer bangen Menschheit den Atem
anhalten.
Ein Timer klingelte leise. Es war ein Alarm, den sie
eingestellt hatte und der exakt im Moment des Ausbruchs des
Sturms ertönen sollte.
Am Morgenhimmel änderte sich nichts. Das Licht braucht
dreizehn Minuten, um von der Sonne zum Mars zu gelangen. Helena
wusste aber, dass die elektromagnetische Wut des Sonnensturms
sich bereits ins Sonnensystem entlud.
Sie stand in feierlicher Stille da. Dann ging sie zum Rover
zurück, um ihre Mission fortzusetzen.
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MORGENDÄMMERUNG
03:07 (Londoner Zeit)
Bisesa und Myra fanden keinen Schlaf. Sie hockten im
Wohnzimmer auf dem Boden und hatten die Arme umeinander
geschlungen. Von draußen hörten sie das Grölen
Betrunkener, das Splittern von Glas, das Geheul von Sirenen
– und hin und wieder einen lauten Knall, der vielleicht von
einer entfernten Explosion herrührte.
Eine Kerze flackerte in ihrem Halter auf dem Fußboden.
Ein paar Taschenlampen und andere wichtige Dinge lagen
griffbereit: ein mit einer Kurbel betriebenes Radio, ein
Verbandskasten, ein Gaskocher und sogar Brennholz, obwohl die
Wohnung gar keinen Ofen hatte. Mit Ausnahme dieses Raums war die
Wohnung dunkel. Sie waren dem Rat der Behörden gefolgt und
hatten fast alle elektrischen beziehungsweise elektronischen
Geräte ausgeschaltet. Es war eine
›Verdunkelungsanordnung‹, wie die
Bürgermeisterin gesagt hatte – der Vergleich hinkte
zwar, war aber ein weiteres Relikt des Zweiten Weltkriegs. Die
Klimaanlage hatten sie allerdings nicht abgeschaltet, denn ohne
sie wäre es in der zunehmend stickigen Luft der Kuppel
schnell unangenehm warm geworden. Und sie hatten es auch nicht
über sich gebracht, die Softwall auszuschalten. Die
Ungewissheit über die aktuellen Ereignisse wäre
unerträglich gewesen. Zumal den Geräuschen nach zu
urteilen, die von draußen hereindrangen, den Appellen der
Bürgermeisterin kaum Beachtung geschenkt wurde.
Die riesige Softwall funktionierte noch. Sie zeigte ein
Panoptikum von Bildern aus der ganzen Welt, die von ernst
dreinblickenden Köpfen mit Kommentaren garniert wurden. Auf
der Nachtseite waren manche Städte durch die Kuppeln
verdunkelt, während in anderen endzeitliche Orgien gefeiert
wurden und Plünderungen
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