Sonnensturm
und Frauen gingen auf
schmerzlich geschwollenen Füßen. Aber es gab keine
Panik, kein Gedränge und keine Rangeleien – und das,
obwohl es keinerlei Anzeichen von Polizei oder Militär gab.
Die Behörden waren einfach nicht präsent. Die Leute
helfen sich selbst, sagte Bisesa sich.
»Wie im Blitzkrieg«, sagte Myra.
»Ich glaube auch.« Bisesa verspürte eine
seltsame Aufwallung der Zuneigung für diese geschundenen,
zähen, widerstandsfähigen polyglotten Londoner. Und zum
ersten Mal an diesem Tag glaubte sie, dass sie es doch
überleben könnten.
Die Menge schob sich durchs Tor und breitete sich im offenen
Gebiet dahinter aus. Und Bisesa betrat, mit Myra an der Hand,
eine veränderte Welt, eine Welt aus Wasser und Feuer.
Über dem Rauch stoben Wolken dahin, von denen ein paar
sichtlich kochten, und gewaltige Blitze zuckten durch die Luft.
Der Himmel über den Wolken schien in Flammen zu stehen; er
war mit riesigen hellroten Platten förmlich gekachelt, als
ob die Erde in einen riesigen Ofen geschoben worden wäre.
Aber vielleicht war es auch nur eine Aurora.
Und auf dem Boden brannte London. Die Luft war mit Rauch
geschwängert, und Flugasche setzte sich auf Bisesas
verschwitzter Haut ab. Sie roch den Schmutz und den Staub und die
Asche – und etwas eher Undefinierbares, etwas wie
verbranntes Fleisch. Aber der Regen hatte gnädigerweise
aufgehört und Wasser auf jedem Rasen und in jedem Abfluss
stehen lassen, sodass die Straßen und Dächer der
Häuser im Widerschein des brennenden Himmels leuchteten. Es
war eine eigentümlich schöne Szene, geradezu
überirdisch: dominiert vom Rot des Lichts am Himmel und des
Wassers auf der Erde.
Myra wies gen Westen. »Mama. Schau mal. Da ist die
Sonne.«
Bisesa drehte sich um. Aber es war natürlich nicht die
Sonne, die sie sah, sondern der Schild, der nach all diesen
Stunden noch immer an seinem Platz war und die Erde beschirmte.
Er war ein scheibenförmiger Regenbogen, der mit zunehmendem
Abstand vom Zentrum heller wurde: Blauviolett im Mittelpunkt und
ein hässliches verbranntes Orange am Rand. Jenseits des
Schildrandes loderte eine helle Korona, mit Fäden und Funken
durchwirkt, die selbst mit dem bloßen Auge leicht zu
erkennen waren.
Diese furchtbare Sonne senkte sich jedoch zum westlichen
Horizont, und der Rauch von Englands Feuern verhüllte
sie.
»Fast schon Sonnenuntergang«, sagte jemand.
»In zwanzig Minuten haben wir diesen Bastard zum letzten
Mal gesehen.«
Es kam Bewegung in den Rand von Bisesas Blickfeld. Sie sah
kleine Gestalten an den Beinen der Leute vorbeihuschen. Es waren
Hunde, Füchse, Katzen und sogar Ratten, die aus der
beschädigten Kuppel strömten und sich in den versengten
Straßen dahinter zerstreuten.
Dann fiel ein warmer, salziger Regen; so schwer, dass er auf
Bisesas unbedecktem Kopf stach. Sie schlang den Arm um Myra.
»Komm weiter! Wir müssen Schutz suchen.«
Mit tausend anderen eilten sie durch die Ruinen Londons.
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MARSFRÜHLING
21:05 (Londoner Zeit)
Helena Umfraville stolperte über eine ockerfarbene
Ebene.
Sie kam zu einer leichten Steigung. Sie erklomm sie, aber sie
war lediglich eine Fortsetzung des zerklüfteten,
geröllübersäten Geländes. Widerwillig ging
sie weiter.
Sie war hundemüde, und der EVA-Anzug hatte sich noch nie
so schwer angefühlt. Sie hatte keine Ahnung, wie lang sie
schon unterwegs war. Dennoch marschierte sie weiter. Es gab auch
nichts anderes zu tun.
Nun stand sie an der Abbruchkante einer Schlucht. Sie hielt
schwer atmend inne. Es war ein Komplex aus Schluchten und
Klippen, deren Wände mit kleinen Kratern übersät
waren. In der dünnen Luft des Marsnachmittags hatte sie
klare Sicht bis zum Horizont. Dadurch wirkte die Schlucht
natürlich kleiner; es fehlte der weichzeichnende Dunst, der
dem irdischen Grand Canyon die räumliche Größe
verlieh. Sie hätte genauso gut auf eine schöne Malerei
schauen können, die mit der eingeschränkten Farbpalette
des Mars gezeichnet war – aus Ocker, Rot und
bräunlichem Orange.
Das war uninteressant. Der Mars war mit Schluchten
förmlich gespickt. Helena echauffierte sich regelrecht
über die Schlucht. Das war doch Unsinn. Die Schlucht konnte
schließlich nichts dafür. Sie nuckelte am letzten
Wasservorrat des Anzugs.
Den schlimmsten Sturm hatte sie im Beagle überstanden, den sie unter Felsüberhängen geparkt
hatte. Es war der einzige Schutz, den sie hatte.
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