Sonnensturm
Pech von ihm ab und senkte sich
wie ein dünner Vorhang durch die Kuppel.
Die Stadt selbst lag in tiefster Finsternis. Der Strom
für die Straßenlampen und Kuppel-Flutlichter war
schließlich zu den großen Ventilatoren umgelenkt
worden. An manchen Stellen gab es jedoch unkontrollierte
Brände, und wo dieses glühende Zeug von der Kuppel auf
den Boden spritzte, brachen neue Brände aus.
St. Pauls überstand es dennoch. Im schaurigen Licht der
Flammen zeichnete sich ihr Profil deutlich ab. Wrens große
Kathedrale stand auf den Fundamenten von Vorgängern, die bis
ins aufgegebene römische London zurückgingen. Nun erhob
die Wölbung des Zinndeckels sich hoch über Wrens
Meisterwerk – aber es überlebte, wie es schon
frühere nationale Traumata überstanden hatte. Siobhan
fragte sich, welche unbesungenen Helden heute die alte Kathedrale
retteten.
Aber es war vielleicht doch umsonst.
»Wenn die Kuppel einstürzt, sind wir
erledigt«, sagte sie.
»Aber sie wird nicht einstürzen«, sagte Toby
Pitt fest. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Siebzehn Uhr
dreißig. Weniger als zwei Stunden bis Sonnenuntergang. Wir
werden das auch noch überstehen.«
Seit dem Tod von Perdita hatte Toby es anscheinend zu seiner
Aufgabe gemacht, sie aufzumuntern. Er war ein guter Mensch, sagte
sie sich. Aber natürlich machte nichts von dem, was er sagte
oder tat, noch einen Unterschied für Siobhan. Sie hatte ihre
eigene Tochter überlebt: Das war eine ebenso erstaunliche
wie irrationale Vorstellung, und fortan würde nichts mehr
von Bedeutung für sie sein. Aber sie spürte den Schmerz
dieses schrecklichen Verlustes in ihrem Leben nicht – noch
nicht.
Mit dem Gefühl, auf Autopilot geschaltet zu haben,
schaute sie auf die großen Wandbildschirme.
Die Bilder von der ganzen Erde waren noch von einer
erstaunlich guten Qualität. Sowohl der Mond als auch der
Schild standen natürlich auf der der Sonne zugewandten Seite
der Erde und schauten deshalb auf die Tagseite des unter ihnen
sich drehenden Planeten hinab. Aber es gab auch im Himmel
über der Nachtseite ein paar Augen, die selbst vierzehn
Stunden nach dem Ausbruch des Sonnensturms noch arbeiteten.
Ein paar Nachtseiten-Datenströme kamen von
Präsidentin Alvarez, die sich irgendwo über Indien
befand. Schon lang vor dem Ausbruch des Sturms war Alvarez in der
letzten Airforce One in der Luft gewesen, einem
atomgetriebenen Ungetüm, das angeblich zwei Wochen
ununterbrochen in der Luft bleiben konnte. Es war eine leichte
Übung für ein solches Flugzeug, während der
zwanzig-plus Stunden des Sonnensturms um die Erde zu fliegen und
vorm Licht zu fliehen.
Und einer der Bildströme kam von anderen Ausreißern
an L2. Der zweite Lagrangepunkt der Erde befand sich auf der
Erde-Sonne-Linie, aber am Mitternachtspunkt – also auf der
Seite des Planeten, die der Schild-Station entgegengesetzt war.
Während der Schild an L1 im ewigen Sonnenlicht lag, stand L2
im Schatten der Erde in ewiger Nacht. In diesem Moment stand L2
über dem Meridian, der durch Südostasien verlief.
Und dort an L2 war heimlich ein großer Weltraumbunker
gebaut worden, in dem Billiardäre, Diktatoren und andere
Reiche und Schöne Zuflucht gesucht hatten –
einschließlich der Hälfte des britischen
Königshauses, wenn man den Gerüchten glauben wollte.
Der einzige Kontakt, den Siobhan auf L2 hatte, war Phillippa
Duflot. Sie war zwar nur die persönliche Assistentin der
Londoner Bürgermeisterin gewesen, entstammte aber einer
Familie mit viel besseren Beziehungen, als Siobhan geahnt hatte.
Es war Phillippa, die sichergestellt hatte, dass die Datenleitung
von L2 nach London aufrechterhalten wurde – und sie
ließ auch durchblicken, was dort oben vorging. Die
dekadenteren Bewohner der Station schmissen Partys und machten
sich einen Lenz, während die Erde brannte. Eine Gruppe von
Verschwörern schmiedete sogar Pläne für die Zeit
nach dem Sonnensturm, wo diese elitäre Schar nach der
Rückkehr auf die Erde das Kommando übernehmen wollte:
»Adam und Eva in Gucci-Schuhen«, hatte Toby Pitt
abfällig bemerkt.
Und was die Erde selbst betraf, die auf diesen fleißig
gesammelten Bildern abgebildet wurde, so schaute der Planet wie
die Venus aus, sagte Siobhan sich – eine zerfledderte,
qualmende Venus.
Billiarden Tonnen Wasser waren in Wolken gepumpt worden, die
sich nun von Pol zu Pol erstreckten. Die Wolken wurden durch
riesige Sturmfronten
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