Sonnensturm
hörte überhaupt nicht mehr zu. Er tippte
auf eine Wasserstofflicht-Darstellung. »Das ist das
Problem«, sagte er.
Es war die neue aktive Region. Sie war sichtlich dunkler als
die umgebende Photosphäre und glich einer hässlichen
S-förmigen Narbe. »Ich gestehe, dass ich verwirrt
bin«, sagte Michail. »In dieser Phase des
Sonnenzyklus würde man so etwas nicht erwarten.«
»Ich habe es erwartet«, sagte Eugene.
»Und das ist der Knackpunkt.«
»Das Ende der Welt?«, fragte Michail
vorsichtig.
»Noch nicht. Das ist erst der Auftakt. Aber es wird auch
so schon schlimm genug werden. Deshalb bin ich überhaupt nur
hergekommen. Sie müssen sie warnen.« Ein gehetzter
Ausdruck trat in seine großen, dunklen Augen. »Ich
habe Prognosen mit einer Zeitsignatur.«
»Das haben Sie mir schon gesagt.«
»Trotzdem wird man mir keine Aufmerksamkeit schenken.
Auf Sie wird man aber hören. Das ist schließlich Ihr
Job. Und wo Sie nun einen Beweis haben, werden Sie es doch tun,
nicht wahr? Sie müssen sie warnen.«
Eugene hatte auch nicht den Hauch von sozialer Kompetenz,
sagte Michail sich mit einer Mischung aus Ärger und Mitleid.
»Wer sind sie? Wen genau soll ich eigentlich
warnen?«
Eugene breitete die Hände aus. »Zunächst
einmal alle, die verwundbar sind. Auf dem Mond. In der
Raumstation. Auf dem Mars und auf Aurora 2.«
»Und auf der Erde?«
»Ja, natürlich. Und die Erde.« Eugene schaute
auf die Uhr. »Aber die Erde ist schon betroffen.«
Michail musterte für eine Weile sein Gesicht. Dann rief
er Thales.
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MASSEAUSSTOSS
Siobhan betrachtete die Monitore im Konferenztisch. Sie war
auf der Suche nach Informationen.
Das gestaltete sich etwas schwierig. Sonnenstudien und
Weltraumwetter fielen nämlich nicht in Siobhans Ressort.
Aristoteles war ihr immerhin eine Hilfe, obwohl er bisweilen
etwas zerstreut schien. Dann wurde sie sich bewusst, dass er von
der Auflösung der weltumspannenden Vernetzung, durch die er
sich schließlich manifestierte, auch stark betroffen sein
musste. Das verursachte ihr Unbehagen.
Sie fand alsbald heraus, dass es überall auf der Welt und
selbst im All Sonnenobservatorien gab. Sie versuchte, zum
Kitt-Peak, Mauna Kea auf Hawaii und der Big-Bear-Sternwarte im
südlichen Kalifornien durchzukommen. Doch in keiner dieser
Einrichtungen erreichte sie jemanden, was auch vorherzusehen war;
selbst wenn die Kommunikationssysteme nicht zerstört waren,
drohten sie bestimmt unter dem Ansturm der Anrufe
zusammenzubrechen. Immerhin erfuhr sie von der Existenz eines
›Weltraumwetterdiensts‹, eines Netzwerks von
Observatorien, Satelliten, Datenbanken und Experten, die die
Sonne und ihre stürmische Umgebung überwachten und die
schlimmsten Ausbrüche vorherzusagen versuchten. Es schien
sogar eine Wetterstation am Südpol des Mondes zu geben.
Trotz jahrzehntelanger Beobachtung der launischen Sonne hatte
bisher nur eine einzige Person die ungewöhnlichen Ereignisse
des heutigen Tags vorhergesagt: ein junger, auf dem Mond lebender
Wissenschaftler namens Eugene Mangles, der recht präzise
Prognosen in einigen wissenschaftlichen Diskussionsforen geloggt
hatte. Aber es bestand keine Verbindung mehr zum Mond.
Dreißig Minuten nach dem letzten Gespräch mit ihr
rief Siobhan Phillippa Duflot wieder an.
»Es hat alles mit der Sonne zu tun«, sagte
sie.
»Das wissen wir auch schon«, sagte Phillippa.
»Sie hat uns das beschert, was die Sonnengucker als
einen ›koronaren Masseausstoß‹
bezeichnen.«
Sie erläuterte, dass die Korona – die erweiterte
äußere Atmosphäre der Sonne – durch starke,
in der Sonne verwurzelte Magnetfelder zusammengehalten wurde.
Manchmal traten Verwerfungen dieser Felder auf, häufig
über aktiven Regionen. In solchen Verwerfungen waren Blasen
superheißen Plasmas eingeschlossen, die zuvor von der Sonne
emittiert worden waren und dann explosionsartig freigesetzt
wurden. Genau das war an diesem Morgen über dem großen
Sonnenfleckkontinent geschehen, den die Experten Aktive Region
12.688 nannten: Eine Masse von einigen Milliarden Tonnen Plasma,
durch ein eigenes Magnetfeld ›zusammengepackt‹, war
mit einem hohen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit von der Sonne
weggeschleudert worden.
»Es dauerte weniger als eine Stunde, bis der
Ausstoß hier eintraf«, sagte Siobhan. »Mir ist
klar, dass das für ein solches Phänomen extrem schnell
ist. Niemand hat ihn kommen sehen, zumal niemand
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