Sonnensturm
Ausdrucksweise.«
»So dürfen Sie nicht denken. Vergessen Sie nicht,
dass die Masse des chinesischen Volkes kaum eine oder
überhaupt keine Ahnung von den Machenschaften ihrer
Führer hat und schon gar keine Einflussmöglichkeit. Sie
arbeiten für diese Menschen und nicht für die
Gerontokraten in Peking.«
Er grinste. »Sie haben wohl Recht. Sehen Sie, genau
deshalb würden Sie auch meine Stimme bekommen.«
»Sicher würde ich…«
Er zeigte nach oben. »Wenn Sie nach oben schauen, sehen
Sie, worum es eigentlich geht.«
Sie musste sich nach vorn beugen, um es zu sehen.
Da war die Erde. Es war eine blaue Laterne, die in direkter
Opposition zur Sonne stand. Miriam war anderthalb Millionen
Kilometer von zu Hause entfernt, und von hier hatte der Planet in
etwa die Größe des Mondes, von der Erde aus gesehen.
Und sie war natürlich voll; das war die Erde immer, wenn man
sie von L1 aus betrachtete, weil der genau zwischen Sonne und
Erde lag.
Die Erde hing tief überm Schild selbst, und ihr fahles
blaues Licht wurde von einem glasigen Boden reflektiert, der sich
zu einem jetzt schon weit entfernten Horizont erstreckte. Der im
Bau befindliche Schild musste erst noch positioniert und zur
Sonne gedreht werden; das würde in den letzten Tagen vor dem
Ausbruch des Sonnensturms geschehen.
Es war ein ebenso erstaunlicher wie schöner Anblick, und
man vermochte kaum zu glauben, dass Menschen dieses Ding
hier in den Tiefen des Raums erschaffen hatten.
Von diesem Anblick überwältigt wandte sie sich an
ihren Pressesprecher. »Nicolaus, vergessen Sie die
verdammten Kameras. Das müssen Sie einfach
sehen…«
Er kauerte am hinteren Schott der Kammer, und sein Gesicht war
in einer Seelenqual verzerrt, die sie noch nie zuvor bei ihm
gesehen hatte. Er erlangte die Fassung schnell zurück. Aber
es war ein Ausdruck, an den sie sich drei Tage später
erinnern sollte, als die Boudicca ihren letzten Flug zur
Erde antrat.
Beim Verlassen des Beobachtungsdecks fiel Miriam eine Plakette
auf, die hastig aus einem Stück Mondglas gefräst worden
war:
DAS JÜNGSTE GERICHT HAT SICH VERTAGT
DANK DEM U.S. ASTRONAUTICAL ENGINEERING CORPS
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KANONENRAUCH
Für den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre nahm
Nicolaus neben Miriam Platz. Er machte einen angespannten und
wortkargen Eindruck, den er auch schon seit dem Abflug vom Schild
und überhaupt während ihres ganzen Aufenthalts dort
oben gemacht hatte.
Miriam fühlte sich aber gut, obwohl sie wusste, dass sie
sehr erschöpft war. Sie streckte sich behaglich. Die
großen Softscreens um sie herum zeigten das blaugraue
Antlitz der Erde, und ein rosiges Glühen erschien an den
Vorderkanten der Stummelflügel der Boudicca, als sie
in die sich verdichtende Luft eintraten. Es war aber kaum eine
Verzögerung wahrnehmbar, nur unmerkliche Vibrationen und ein
sanfter Druck auf der Brust. Sie genoss den schönen Ausblick
und den Komfort des Flugs. »Nach sieben Tagen im Raum
fühle ich mich prächtig«, sagte sie.
»Ich könnte mich direkt daran gewöhnen. Zu
schade, dass es schon vorbei ist.«
»Alles hat einmal ein Ende.«
Nicolaus sagte das mit einem eigenartigen Unterton. Sie
schaute ihn an, doch seine Haltung war unverändert steif,
und sein Gesicht war ausdruckslos. Eine leise Alarmglocke
läutete in ihrem Kopf.
Sie schaute an Nicolaus vorbei den schmalen Gang entlang zu
Captain Purcell, der seit einer Weile auch schon nichts mehr
gesagt hatte. Purcells Kopf wackelte wie der einer
Marionette.
Sie begriff sofort. »Oh, Nicolaus. Was haben Sie
getan?«
Siobhan erreichte das Apartment in Chelsea – mit Toby
Pitt an ihrer Seite. Es war eine ganz normale Wohnung, sagte
Siobhan sich, und heute war ein ganz normaler Märztag. Aber
die Frau, die dann die Tür öffnete, war alles andere
als ›normal‹.
»Vielen Dank für Ihr Kommen«, sagte Bisesa.
Sie sah müde aus – doch zwei Jahre vorm
Sonnensturm-Tag sah wohl jeder müde aus, sagte Siobhan
sich.
Siobhan folgte ihr durch den kurzen Flur der Wohnung zum
Wohnzimmer. In dem Zimmer herrschte das Durcheinander, das man
erwartet hätte: eine Couch mit knautschiger Optik und Platz
für drei sowie Tische, die mit Zeitschriften und
zusammengerollten Softscreens übersät waren. Der
größte Posten, für den Geld ausgegeben worden
war, war eine große kindgerechte Softwall. Bisesa war eine
allein erziehende Mutter, wie Siobhan wusste; ihre inzwischen
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