Sonnentaucher
P-Test-Ergebnis, Jacob.«
»Sind Sie sicher, daß Sie nichts weiter brauchen? Das waren erst drei.« In Wirklichkeit war er erleichtert.
»Nein. Wir haben fünf von Peter genommen, um eine Gegenprobe machen zu können. Da brauchen wir Sie nur zur Kontrolle. Setzen Sie sich, und entspannen Sie sich, bis wir hier fertig sind.«
Jacob begab sich zu einem der Sessel, die in der Nähe standen. Mit dem Ärmel wischte er sich über die Stirn, um eine dünne Schweißschicht zu entfernen. Der Test war eine dreißig Sekunden währende Marter gewesen.
Das erste Bild war das Porträt eines Mannes gewesen, ein Gesicht, knorrig und voller Sorgenfalten, die Geschichte eines Lebens, die er zwei, drei Sekunden lang hatte studieren können, bevor es wieder verschwunden war und sich wie ein flüchtiger Blitz in sein Gedächtnis gebrannt hatte.
Das zweite war ein verwirrendes Chaos von abstrakten Formen gewesen, die sich in statischer Unordnung hart umeinanderdrängten. Das Ganze hatte dem Labyrinth von Mustern am Rande eines Sonnentorus geähnelt, aber nicht die gleiche Brillanz besessen, nicht die gleiche Gesamtkonsistenz.
Ja, und das dritte war die Sepiaszene gewesen, anscheinend die Wiedergabe eines alten Stiches aus dem Dreißigjährigen Krieg. Es war eine explizite Gewaltdarstellung gewesen, erinnerte Jacob sich – genau das, was man bei einem P-Test erwartet hätte.
Nach der übermäßig dramatischen ›Bibliotheksszene‹, die unten stattgefunden hatte, zögerte Jacob, sich auch nur in eine leichte Trance zu versenken, um seine Nerven zu beruhigen. Ganz ohne aber konnte er sich nicht entspannen. Er stand auf und ging zu der Konsole hinüber. Auf der anderen Seite der Kuppel, am Rande des Stasisschirms, spazierte LaRoque müßig auf und ab. Er starrte hinaus und betrachtete die langgestreckten Schatten und die blasigen Felsen des Merkur-Nordpols.
»Darf ich die Rohdaten sehen?« fragte Jacob.
»Sicher«, antwortete Martine. »Welche möchten Sie sehen?«
»Die letzten.«
Martine tippte auf der Tastatur. Aus einem Schlitz unter dem Monitor schob sich ein Blatt hervor. Sie riß es ab und reichte es ihm.
Es war die ländliche Szene‹. Natürlich sah er jetzt den wahren Inhalt des Bildes, aber der ganze Zweck der ersten Betrachtung lag ja darin zu erkunden, wie er in den ersten paar Augenblicken reagierte, bevor er bewußte, rationale Erwägungen ins Spiel bringen konnte. Eine gezackte Linie zog sich hin und her, auf und ab über das Bild. Neben jedem Vertex, jedem Ruhepunkt, stand eine kleine Ziffer. Die Linie zeigte den Weg, den sein Blick in jenem kurzen Moment gefolgt war, registriert von dem Netzhautlesegerät, das seine Augenbewegungen aufgezeichnet hatte.
Die Ziffer eins und der Anfang der Linie befanden sich dicht neben dem Mittelpunkt des Bildes. Bis zur Sechs schweifte die Blicklinie ziellos umher: Dann verharrte sie auf den Brüsten der rennenden Frau. Die Sieben, die hier notiert war, war von einem Kreis umgeben.
Die nächsten Ziffern bildeten dichte Gruppen, nicht nur von sieben bis sechzehn, sondern weiter von dreißig bis fünfunddreißig und von zweiundachtzig bis sechsundachtzig.
Bei der Zwanzig verlagerten sich die Zahlen plötzlich von den Füßen der Frau zu den Wolken über dem Bauernhof. Dann bewegten sie sich in rascher Folge über Personen und Gegenstände, manchmal von Kreisen oder Vierecken umgeben, mit denen Pupillenerweiterung, Tiefenschärfe und die Veränderungen des Blutdrucks in den feinen Adern der Retina notiert wurden. Anscheinend hatte der modifizierte Stanford-Pur-kinje-Augentester, den er aus Martines Tachistoskop und verschiedenen anderen Kleinigkeiten zusammengebastelt hatte, funktioniert.
Jacob war nicht so unerfahren, wegen seiner Reflexreaktion auf den Busen der Frau Verlegenheit oder Besorgnis zu spüren. Wäre er weiblichen Geschlechts gewesen, hätte er anders reagiert und mehr Zeit auf die Frau insgesamt verwandt. Die Konzentration hätte stärker auf Haare, Kleidung und Gesicht gelegen.
Von weit größerer Bedeutung war seine Reaktion auf die Szene insgesamt. Links, neben den kämpfenden Personen, befand sich eine Ziffer mit einem Stern. Dies war der Punkt, an dem er begriffen hatte, daß das Bild eine gewalttätige, keine pastorale Szene darstellte. Er nickte befriedigt. Die Ziffer war relativ niedrig, und die Blicklinie entfernte sich unverzüglich für eine Periode von fünf Takten von der Stelle, ehe sie noch einmal dorthin zurückkehrte. Dies kennzeichnete ein
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