Sonnenwanderer
in einer Buchse am Grund ihrer Wirbelsäule verschwanden. Auf ihrer Haut blitzten und funkelten lauter Lichtreflexe. Sie wedelte mit ihren fröhlich grapschenden Händchen wie ein Baby, das einem Springbrunnen zusieht.
»Xtaska«, sagte Käpt’n Jute. »Was hältst du von dieser neuen Topografie?«
Das spätmenschliche Kleinkind blinzelte sie an, öffnete den Knospenmund aus schwarzem Bernstein. »Namen sind unhandlich«, sagte es. »Ziffern genügen. Jede erreichbare Stelle kann mit sieben oder weniger Ziffern beschrieben werden. Die Berechnungen sind nicht besonders kompliziert.«
»Danke, Xtaska«, sagte Käpt’n Jute mit schwerer Stimme. »Das war sehr hilfreich.« Sie sah, wie die Frau von Tex-Mex zufrieden nickte. Tabea bekam Kopfweh. Kopfweh war ein fester Bestandteil ihres Lebens; Kopfweh zeigte ihr, dass sie noch am Leben war.
»Und du, Alice?«
Das Ego war anwesend, weil Tabea anwesend war. Die Antwort kam leicht verzögert: »ALLE SYSTEME HABEN FEHLER, KÄPT’N.«
Tabea kniff die Augen zusammen. »Bist du nun dafür oder nicht?«
»Dafür, natürlich«, maulte Rykow. »Das momentane System ist Schrott. Ein einziges Chaos.«
»Wir sehen das nicht so«, sagte der Sprecher vom Chili-Chalet. »Mit Verlaub, Käpt’n, das Ego will uns offensichtlich vor den
ganzen Forschungsarbeiten und Aufwendungen warnen, die dieses Projekt zwangsläufig mit sich bringt.« Den wütenden Blicken und Gebärden der Verfahrensjunkies war zu entnehmen, dass sie inzwischen mit dem Gedanken spielten, das Plenum zu verlassen; man wollte, dass sie ein Machtwort sprach.
Käpt’n Jute verschränkte die Arme. »Du entscheidest, Alice.«
»ES GIBT NICHT EINEN EINZIGEN TEIL DIESES FAHRZEUGS, FÜR DEN DIE FRASQUI EINEN NAMEN HATTEN«, sagte die körperlose Untergebene.
»Nun, ich hoffe doch, wir sind keine Frasqui«, gab die Sprecherin von Little Foxbourne zum Besten.
»Also machen wir’s«, meinten mehrere. Gespannt und misstrauisch beobachteten sie Käpt’n Jute. Im Plenum hatte die Entscheidung fraglos an Bedeutung gewonnen. Selbst Fortschrittsgläubige und ehemalige Piloten schienen nichts davon zu halten, sie an eine Software mit Selbstbewusstsein zu delegieren.
»SOLANGE DIE LEUTE ZU TUN HABEN, SIND SIE GLÜCKLICH«, bemerkte Alice.
Tabea war es leid. Sie hatte auf das einzige Wesen gesetzt, das sie noch nie im Stich gelassen hatte, auf das einzige Wesen, das wirklich einen Überblick hatte. Zustimmung oder Ablehnung. Sie selbst fand die ganze Sache so lächerlich, dass sie nicht sagen konnte, womit sie sich mehr Probleme einhandelte. Und vertagen hieß nur, die Tortur verlängern. Sie wünschte, Dodger wäre jetzt hier, Dodger oder Sarah, aber keine von beiden würde in einer Million Jahren zu einer Ratsversammlung kommen. »Gütiger Himmel, dann macht es meinethalben!«, sagte sie und stand auf. »Zoe, kommst du?«
Als sie aus dem Saal gingen, hörte man Papiere rascheln. Tabeas Jünger eilten ihr nach, buhlten um ihre Aufmerksamkeit. Und im Plenarsaal wurde schon wieder geredet.
»Reichst du ihnen den kleinen Finger, wollen sie die ganze Hand«, murrte Tabea so leise, dass nur Zoe es verstand. Alice hatte wie immer recht: Solange sie zu tun haben, hast du sie aus den Füßen.
Abgesehen von dem, was Xavier über Paradigmenwechsel und Schnittstellen zwischen Geist und Hirn verzapfte, wurde immer deutlicher, dass die Fertigkeiten, die die Seraphim Alice einprogrammiert hatten, an ihre Grenzen stießen. Das traditionelle Stöpselego war kein Ersatz für das, was die Frasqui gehabt hatten: direkten physischen Zugang zum Gedächtnis ihres Schiffes - ein Gedächtnis, das, will man dem Cherub glauben, sich in der Matrix des Schiffes manifestiert. Warum hatten sie ihr Schiff nie erprobt? Welcher Defekt hatte sie gehindert, mit diesem Schiff der capellanischen Säuberung zu entkommen, als sie zu Tausenden starben? Niemand wusste es. Sicher, es gab Theorien, aber wer wollte ihnen zuhören?
Schon früh war Käpt’n Jute auf Geheiß von Xtaska durch kalkige und glitschige Löcher gekrochen, um sich glänzende, rote Adern von analogem Silizium anzusehen, die sich nach allen Richtungen im Dunkel verloren. Es gab sie überall. Tabea ging davon aus, dass sich der Traum der Integratoren bis zu ihrer Ankunft über Proxima nicht einmal ansatzweise realisieren ließ und schon gar keine Deinstallation des Ego zu befürchten war. »Das schon mal gar nicht, Alice«, ächzte sie, während sie sich im Sand auf den Bauch
Weitere Kostenlose Bücher