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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Er mochte nicht, wie sie sich Mimi anbiederte, und noch weniger mochte er ihre Art, anderen das Gefühl zu vermitteln, sie müssten dankbar dafür sein, mit ihr denselben Raum teilen zu dürfen. Sie war einer der wenigen Menschen, deren bloße Anwesenheit Tom körperliches Unbehagen verursachte.
    Paul breitete vor Wladimir und Martin den Abend noch einmal aus: Tom und Elsa standen also nebeneinander an der Theke, und Elsa konnte es sich nicht verkneifen, ihn zu provozieren. Während er auf seine Bestellung wartete, sagte sie: »Na, musst du dir Mut antrinken?«
    »Wofür sollte ich den brauchen?«
    »Wenn du es nicht weißt …«
    Tom fand, dass ihm dieser Tag genug zugemutet hatte, und war nicht bereit, weitere Zugeständnisse zu machen. Mit Seelsorgermiene ließ er Elsas Herausforderung ins Leere laufen und tat stattdessen verständnisvoll: »Es stimmt mich wirklich traurig, dass du mir gegenüber so negativ eingestellt bist.«
    »Soll das ein Witz sein?«
    »Keineswegs.«
    So ging das eine halbe Stunde lang. Immer wieder versuchte Elsa, Türen einzurennen, die entweder schon offen waren oder sich als Plüschkissen erwiesen. Dann hatte er sie so weit: Sie musste sich eingestehen, dass er nicht der war, für den sie ihn immer gehalten hatte. Und plötzlich fing sie an, Intimitäten |160| auszuplaudern, über sich und ihre Identitätsprobleme zu reden, dass Männer alles taten, um Frauen nicht zu sich selbst finden zu lassen, weil sie sich vor starken Partnerinnen fürchteten.
    Tom hatte Skrupel. Elsas Offenheit hatte ein ehrliches Gespräch verdient, aber sie war wie ein verstimmtes Klavier: Selbst wenn sie etwas Richtiges oder Schönes sagte, klang es falsch. Nachdem sich ihr ganzer Frust Bahn gebrochen hatte und sie verletzlich war wie ein Hund, der seinem Gegner die Kehle hinstreckt, biss er zu: »Jaja, sicher.«
    Elsa war konsterniert, weil er es wagte, ihre Probleme nicht zu würdigen, und zählte auf, was sich Männer alles einfallen ließen, damit ihre Frauen nur ja nicht selbständig wurden: Dass sie ihnen untersagten, mit Freunden auszugehen, oder von ihnen verlangten, ihr Studium an den Nagel zu hängen, weil sie es nicht verkraften konnten, wenn ihre Frauen schlauer waren als sie selbst. Natürlich war es in Wirklichkeit ihre Geschichte, und Tom wunderte sich selbst, wie er es geschafft hatte, dass sie ihr Innerstes nach außen kehrte. Während sie ihm ihr Leben zu Füßen legte, dachte er: Vielleicht solltest du lieber mal überlegen, was mit
dir
nicht stimmt, dass du immer bei Arschlöchern landest. Gelangweilt drehte er sein Glas: »Ja, da muss jeder selber sehen, wie er mit klarkommt« – so als hätte er alles gesehen, alles erlebt.
    Elsa schäumte vor Wut über seine Ignoranz. Da war jemand, der ihr ihre intimsten Ängste entlockte, und alles, was er dazu zu sagen hatte, war: »Ja, klar.« Sie beschimpfte Tom, dass er nicht so überheblich tun sollte, denn er hätte keine Ahnung, wovon sie überhaupt redete. Tom blieb ruhig und sagte ganz weich, dass er ihr nicht verübeln könne, so zu denken, dass er wisse, was für ein Gefühl das sei.
    Elsa: »Ach ja? Dann erzähl doch mal, was dir so Schlimmes widerfahren ist. Hat dich deine Mutter früher im Tütü zum Sportunterricht geschickt?«
    |161| Und Tom sah sie von unten herauf an, obwohl er dreißig Zentimeter größer war, und sagte: »Zwilling.«
    Paul wurde in seinen Ausführungen von Martin unterbrochen: »Zwilling? Das war alles?«
    Paul: »Das war alles. Sie denkt natürlich, er meint sein Sternzeichen, und faucht: ›Wie, Zwilling? Ich bin Skorpion, na und? Ich Tarzan, du Jane, oder was soll das?‹«
    Nach einer endlosen Pause hauchte Tom ihr zu, er sei einer von zwei Zwillingen. In Elsa keimte eine Ahnung auf, dass sich dahinter ein echtes Identitätsproblem verbergen könnte, aber sie war schon voll in Fahrt und konnte irgendwie nicht mehr anhalten: »Du meinst, es gibt dich zweimal?«
    Wieder ließ Tom sie schmoren, bevor er mit Grabesstimme antwortete: »Nicht mehr.«
    Elsa kam ins Stocken und spürte, dass ihre Identitätsprobleme neben denen von Tom gleich völlig blass aussehen könnten, während er, in dem sicheren Gefühl, sich den Ball zentimetergenau auf den Elfmeterpunkt gelegt zu haben, Anlauf nahm. Er erzählte von seinem eineiigen Zwillingsbruder und dass sie letztes Jahr zusammen Urlaub auf Key West gemacht hätten. Nach einem dieser einmaligen Sonnenuntergänge wollten sie auf dem Weg zurück ihren letzten Urlaubsabend in

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