Sonnenwende
der bis um sieben Uhr früh gearbeitet hatte, konnte nicht wieder einschlafen, nachdem Wladimir ihn mit seinem Anruf aus dem Bett geklingelt hatte, und war ebenfalls an den See gefahren. Als er Tom und Wladimir jetzt so träge auf ihren Badetüchern liegen sah, wurde er leicht missgünstig.
»Na, Jungs, wieder schwer am Schuften?«, fragte er, während er sein Handtuch ausrollte.
Tom hörte ihn gar nicht. Er dachte an Helen und fragte sich, woher diese merkwürdige Mischung aus Wut, Verletztheit und tiefer Befriedigung rührte, die Helen als Nachgeschmack hinterlassen hatte.
Auch Wladimir gab Paul keine Antwort: Die Rothaarige ließ ihm keine Ruhe. Er sprach von ihr wie von einem Pfirsich, der genau die richtige Reife besaß.
»Was für eine Schönheit! In dem Alter sind sie einfach unschlagbar.«
Tom wurde ärgerlich: »Begreif es doch endlich: Schönheit an sich ist alterslos. Was du meinst, ist, was deinen Schwanz hart macht. Das ist etwas anderes.«
Wladimir: »Junge Menschen sind einfach mal schöner als alte.«
»Du meinst, junge Körper sind knackiger als alte, d’accord. Aber einen glücklichen Menschen wirst du auch im Alter noch gerne ansehen. Es gibt nur nicht besonders viele. In der Jugend sind viele schön, weil ihnen das Leben zu Füßen liegt und sich als Reich unbegrenzter Möglichkeiten präsentiert, aber die meisten sind irgendwann desillusioniert und begreifen ihr Leben als einen Haufen verpasster Chancen und ungenutzter Möglichkeiten. Dann ist die Schönheit auch dahin.«
Paul ging baden, und Tom und Wladimir kamen stillschweigend |155| überein, das Thema Alter und Sexualität nicht weiter zu strapazieren; Toms Laune war ohnehin im Keller. Er legte sich demonstrativ auf den Rücken und schloss die Augen. Endlich kehrt Ruhe ein, dachte er.
Als Paul wieder aus dem Wasser kam, traf er auf einen Mann mit stoppeligem Kurzhaarschnitt, der sein Mountainbike den unteren Weg entlangschob. Er sah nicht nur aus wie ein Surfer, er war einer. Modische Shorts, modische Turnschuhe ohne Socken, modisches Hemd offen über einem weißen T-Shirt, modische Uhr. Eine, mit der man endlos oft ins Wasser fallen konnte, ohne dass sie einen im Stich ließ.
Es war Martin, ein Freund. Ein netter Kerl mit jugendlichem Charme, geradeheraus, wohlmeinend. Paul mochte, dass er kein Aufschneider, sondern ein ganz normaler Typ war, der auch gar nichts anderes sein wollte. Ein »Normalo«, wie Lara gesagt hätte, was Paul ganz passend fand, weil es zeigte, dass ganz normale Menschen in einer Welt zwanghafter Interessantheiten inzwischen zu den Exoten gehörten. Martin war seit einigen Monaten fertiger Jurist, und in einer Hinsicht war er wie die meisten Juristen: Er glaubte, nicht wie die anderen zu sein.
Sein Vater war auch Jurist. Und Wirtschaftsprüfer. Sein Großvater ebenfalls. Gelegentlich beherbergte die Kanzlei nun die ganze Familie. Eigentlich hatte Martin ein Bed and Breakfast in Australien aufmachen und jeden Morgen nach dem Frühstück mit seinem Surfboard die Wellen zähmen wollen, aber das war nicht einfach in so einer Familie, und irgendwann war es ihm nicht mehr so wichtig gewesen, und er hatte stattdessen sich selbst gezähmt. Jetzt fuhr er im Sommer hin und wieder übers Wochenende an die Ostsee und dümpelte mit seinem Board auf dem gekräuselten Wasser herum. »In
unserer
Familie ist noch alles in Ordnung«, sagte die Großmutter gerne.
|156| Neulich hatte er einen wirklich schlechten Tag gehabt, weil er seinen ersten Prozess in den Sand gesetzt und sich am Abend nach einer Flasche Chablis die Sinnfrage gestellt hatte. Da kam es ihm vor, als hätte er seinen toten Träumen das Fell abgezogen und würde sie jetzt auf der Haut und am Handgelenk tragen.
Paul zeigte ihm ihren Liegeplatz und ging zu Tom und Wladimir zurück. Martin schlang sich sein Handtuch um den Hals und ging zunächst zu Elsa hinüber, die mit ihm studiert hatte. Tom beobachtete, wie sie mit ihrer Hand die Augen abschirmen musste, um zu ihm aufsehen zu können. Nach einer Weile kam er zu ihnen herüber. Paul war bereits in die Zeitung vertieft.
»Hi, Tom«, und zu Wladimir, den er nicht kannte: »Hallo.«
Tom: »Hallo, Martin, wie geht’s?«
»Gut. … Sag mal, über dich erfahre ich ja die wildesten Geschichten. Als ich Elsa eben gefragt habe, ob sie nicht mit zu euch rüberkommen will, hat sie mir erzählt, dass du versucht hast, sie nach meiner Examensparty ins Auto zu zerren. Als das nicht geklappt hat, bist du vor ihrem
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