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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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einer Bar ausklingen lassen, als ihnen auf ihrer Straßenseite ein Auto entgegenkam, und das, wo die Straße breit genug gewesen wäre, dass ein halbes Dutzend Autos nebeneinander hätten fahren können. Jedenfalls: Der andere Wagen kam ins Schleudern, und Tom versuchte noch, irgendwie auszuweichen, aber wie ferngelenkt raste das Auto in die Beifahrerseite.
    »Senior«, englisch ausgesprochen – Tom erklärte Elsa, dass seine Eltern seinen Bruder so genannt hätten, weil er zehn Minuten früher auf die Welt gekommen wäre als er –, Senior also war sofort tot, während Tom jetzt mit ein paar Schrammen, |162| einem Schleudertrauma und all den Schuldgefühlen weiterleben müsste.
    Elsa war inzwischen leichenblass geworden und bekam keinen Ton mehr raus. Tom setzte nach: Wie sich herausgestellt habe, sei der Fahrer des anderen Autos völlig stoned und besoffen gewesen und hatte zynischerweise nicht mal eine Schramme abbekommen, weil das Auto seines Daddys natürlich mit Airbag ausgerüstet war. Inzwischen saß er in Florida im Gefängnis, von wo er Tom mit Briefen überschüttete, die alle so klangen, als wollte er sich von seiner Schuld reinwaschen, also hatte Tom ihm geschrieben, er solle damit aufhören.
    Elsas Feindseligkeit hatte sich inzwischen in zärtliche Zuneigung verwandelt; sie bedachte Tom mit mitleidigen Blicken. Um ihr den Rest zu geben, beschrieb Tom, wie er seitdem regelmäßig nachts aufwachte und dann seine linke Körperhälfte wie gelähmt war, so dass er nur seinen rechten Arm und sein rechtes Bein bewegen konnte – als wäre er nur noch zur Hälfte am Leben. Zum Schluss legte er ihr seine Hand auf den Arm und sagte: »Entschuldige bitte, ich hoffe, ich habe dir nicht den Abend verdorben. Ich gehe jetzt besser. Mach’s gut.« Elsa hatte Tränen in den Augen und konnte nur noch schlucken. Als Tom und Paul auf dem Bürgersteig standen, flog plötzlich die Tür hinter ihnen auf, und Elsa kam herausgelaufen.
    »Tom, warte!«
    Sie fiel ihm um den Hals: »Es tut mir leid, Tom, es tut mir so schrecklich leid!«
    Tom hatte das schlechteste Gewissen seines Lebens und hätte ihr am liebsten sofort gesagt, dass alles eine Verarsche war, denn er wusste, irgendwann würde sie es erfahren, aber er konnte nicht, so wie sie heulte, und ein bisschen fühlte es sich auch gut an. So gut, dass er wünschte, die Geschichte wäre wahr.
    |163| Martin: »Das hast du nicht wirklich getan, Tom?«
    Tom: »Ich bin nicht stolz drauf.«
    Wladimir: »Ich wär’ stolz drauf. Ist doch ’ne geile Geschichte.«
    Wladimir dachte an seine Liebesnacht mit ihr zurück, von der hier niemand etwas ahnte, und an ihren überstürzten Aufbruch. Ihm ging auf, dass Elsa nicht nur sauer gewesen war, weil er ihren Namen verwechselt hatte, sondern weil ihr bei der Gelegenheit auch gleich noch klargeworden sein musste, dass sie damals verarscht worden war.
    Die Sonne brach unerwartet durch die Wolkendecke und verwandelte die Wiese in ein Lichtermeer. Aus Blättern wurde Lametta, und der See lag da in flüssigem Gold. Nicht einmal Wladimir blieb unbeeindruckt.
    »Wow«, sagte er, und mehr gab es tatsächlich nicht zu sagen. Und während Tom sich über Wladimirs ungeahnte Empfänglichkeit für die Schönheiten der Natur wunderte, sagt der: »Noch mal wow« und meinte diesmal den Hintern der rothaarigen Versuchung, der ganz zufällig in seine Richtung zeigte, als sie und ihre Freundin sich zum Gehen rüsteten.
    Ihr Weg führte sie an Wladimir vorbei, der sich in Sekundenschnelle in eine römische Statue mit Sonnenbrille verwandelte. Neben ihm angekommen, hielt sie inne und lächelte auf ihn herab. Das Licht malte einen Feuerkranz um ihren Kopf, ihre Schuhe, die sie erst auf dem Weg anziehen würde, pendelten erwartungsvoll an ihrem Zeigefinger hin und her.
    »Ciao.«
    Wladimir hätte am liebsten eine Ganzkörperbrille gehabt. Er verfluchte sich, weil er sich nicht vorher schon etwas zurechtgelegt hatte und ihm jetzt einfach keine originelle Pickup line einfallen wollte, aber warum sagte sie auch einfach »ciao«? Da gab es irgendwie keinen Einstieg. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als ebenfalls »ciao« zu sagen und sie |164| ziehen zu lassen. Sie zuckte lässig mit der Schulter und federte elegant die Wiese hinauf. Wladimir machte ein Gesicht, als erwarte ihn zu Hause ein Hinrichtungskommando. Paul, Martin und Tom dachten alle dasselbe. Als die Zimtschönheit fast außer Sicht war, tönte es unisono aus drei Kehlen: »Idiot!«
    Wladimir

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